Kapitel 6

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Er wurde etwas verklemmter: "Ich habe dir dein Leben nicht vorzuschreiben. Aber wenn du austreten möchtest und dich dort fehl am Platz fühlst, dann solltest du es tun...". "Aber meine Eltern... Sie haben immer nur das Beste für mich gewollt. Wie soll ich sie-?", mitten im Satz klingelte es. "Ich weiß, was du meinst. Es war nur ein Tipp. Häng nicht zu sehr daran. Jetzt sollte Schule denke ich mal wichtiger sein", munterte er mich auf und wir gingen zum Unterricht. Auf dem Weg versank ich dennoch in meinen Gedanken. Aurelian bemerkte das und half mir da wieder raus: "Als ich dich nach deinen Hobbies gefragt habe, habe ich dir gar nicht erzählt, was meine Hobbies sind. Würde es dich interessieren? So, knapp bevor der Unterricht anfängt". "Hm? Ja, von mir aus", war ich leicht apathisch. "Gestern hast du ja gesehen, dass ich gerne Skateboard fahre. Generell mache ich gerne Sport. Aber im Kontrast mache ich auch gerne Musik. Ich spiele die Gitarre", erzählte er. "Singst du auch?", hakte ich nach. Er lachte: "Auf keinen Fall! Niemand mag das Geräusch von quietschender Kreide an einer Tafel!".

"So schlimm?", lächelte ich leicht. Er nickte heftig: "Seitdem ich in den Stimmbruch gekommen bin, ist damit alles vorbei. Oft bricht meine Stimme im Ton und dann kann ich es gleich vergessen. Mir reicht es aus, Skateboard zu fahren und Gitarre zu spielen". In der Unterhaltung betraten wir den Klassenraum und setzten uns hin. Ich fragte weiter: "Kannst du Noten lesen oder lernst du die Lieder auswendig?". Die Lehrerin verteilte Blätter auf unseren Tischen und brach die Unterhaltung ab: "Das könnt ihr später klären. Jetzt gibt es erstmal einen Überraschungstest". "Was?!", schreckte ich hoch, "Das Jahr hat doch erst angefangen!". "Und es ist das letzte Jahr, ich brauche viele Noten von euch", erklärte sie und verteilte weiter. Verzweifelt ließ ich meinen Kopf auf den Tisch knallen. Da munterte Aurelian mich auf: "Kopf hoch, der Test wird schon nicht so schlimm sein. Und wenn doch, dann versagen wir ihn gemeinsam. Deal?". 

Ich bekam kein Wort raus. Die Sichtschutze wurden zwischen uns gestellt und ich sah flach atmend auf meine Hände. Wir bekamen das Kommando, umzudrehen. Ich schrieb hin und wieder etwas auf, aber die meiste Zeit sah ich eigentlich nur Aurelian an. Auf einmal war ich so fasziniert von ihm. Seine offene und leichtfüßige Art, trotz seines Lebens. Außerdem konnte man eifersüchtig auf sein Aussehen sein. Scharfe Kinnlinie, weiche Haare, hellgrüne Augen und ein angenehm gebräunter Hautton. Einfach ein hübsches Gesicht, wo man gerne hinsah. Vielleicht meinte er das mit meinen goldenen Augen nicht so? Plötzlich hörte ich nur von der Lehrerin: "Shiro, nicht abschreiben!". Direkt schielte Aurelian zu mir rüber. Vor Schreck stieß ich mein Mäppchen vom Tisch und alle Stifte rollten quer über den Boden. Ich seufzte: "Tu ich nicht...". Sie gab eine Nachricht an die ganze Klasse: "Ihr habt alle noch zwei Minuten, kommt zum Ende". Ich sah auf mein fast komplett leeres Blatt.

Auf einmal wurde meine Hand angetippt. Ich sah runter. Aurelian reichte mir einen kleinen Zettel rüber. Unauffällig nahm ich ihn entgegen. Da standen alle wichtigen Antworten drauf. Sofort füllte ich den Test aus. Beim Einsammeln versteckte ich den kleinen Zettel schnell. Sie ahnte gar nichts. Ich sah Aurelian weit lächelnd an. Er flüsterte: "Entweder wir versagen gemeinsam oder wir gewinnen gemeinsam". "Danke", flüsterte ich überwältigt. "Sh, lass es dir nicht anmerken", er zwinkerte mir zu. Ich sah auf meinen Tisch und dachte lächelnd nach. Womit hatte ich das denn verdient? Versuchte er so sehr, sich mit mir anzufreunden? Also, so konnte es gerne weiter gehen. Damian konnte durch niemanden ersetzt werden, aber einen Freund hätte ich schon gebrauchen können.

Nach dieser Stunde hatten wir wieder Chemie. Wieder sollten wir ein neues Experiment machen. Es ging um den Stoff Glycerin. Aurelian hatte schon so ein Grinsen auf dem Gesicht. Er tippte mich leise an, während wir das Experiment vorbereiten sollten: "Lenk bitte den Lehrer für mich ab". "O- ok?", so meldete ich mich, "Mister Johnson, man kann Glycerin doch bei hohen Temperaturen wie dem Gasbrenner entflammen lassen, oder?". Sofort lief er zu mir rüber: "Nein, nein, nein, nein, nein!". Wir diskutierten meine Frage aus, bis Aurelian aus dem Nebenzimmer zurück kam. Geschickt beruhigte er den Lehrer: "Keine Sorge Mister Johnson, ich habe Collins gut unter Kontrolle". Verzweifelt flehte er: "Bitte lass ihn nicht ans Feuer!". "Kommt er nicht, alles gut", nickte er. Mister Johnson ging weiter rum und Aurelian holte etwas hinter seinem Rücken hervor und murmelte: "Nur ich gehe ans Feuer...".

"Was ist das?", fragte ich nach. "Ein kleines Gemisch", grinste er schelmisch. Er füllte alles um. Es war ein süßlicher duft. Leise fragte ich: "Ist das Seife?". "Sh, sh", stummte er mich. Er nahm sich die Streichhölzerpackung. Während alle anderen brav nichts ahnend ihre Experimente durchführten, zündete Aurelian das Streichholz an. Bevor er es an das Stoffgemisch hielt, fragte er mich: "Bereit?". Gefahr im Verzug? Ich nickte motiviert: "Auf jeden!". Er wies mich leicht nervös an: "Greif dir unsere Schulsachen". Ich folgte der Anweisung. Danach schnipste er das Feuerzeug in sein Gemisch, packte mich an der Hand und rannte mit mir nach hinten. Dabei rief er: "In Deckung!". Er schubste mich hart gegen einen Tisch, auf dem nicht experimentiert wurde, sodass dieser umfiel und ich dahinter. Er sprang mir nach. Alle versteckten sich schon aus Angst kreischend. Kurz darauf folgte eine heftige Explosion. Der Tisch, hinter dem wir uns versteckt hatten, drückte uns sogar etwas weg, so stark war die Druckwelle! Der Knall war auch extrem laut!

Kurz piepste es in meinem Ohr. Ich sah nur noch, wie Mister Johnson mit einem Feuerlöscher panisch auf unseren Tisch zu rannte. Viele Mitschülerinnen und Mitschüler riefen schon verärgert meinen Namen. Ich klatschte mit Aurelian ein und wir lachten. Nur irgendwann hörten wir: "Ruft den Krankenwagen!", "Adam ist verletzt!". Oh. Nicht gut. Aber auch nicht schlecht. Adam war der Schläger der Schule, also... Wir taten allen doch nur einen Gefallen, nicht wahr? Dennoch machte Aurelian seinen Fehler wieder gut und war Erster, der half. Adam reagierte wohl nicht schnell genug, er bekam Glassplitter überall ab und ein Buch flog ihm mit Wucht an den Kopf. Noch halb bei Bewusstsein knurrte er mich an: "Shiro...! Das wirst du büßen...!". Unauffällig ging ich ein paar Schritte zurück und machte den Sanitätern Platz. Unglaublich sauer brachte Mister Johnson Aurelian und mich zum Direktor. Jeder Spaß hatte ja irgendwann sein Ende.

Wir saßen dann im Wartezimmer. Aurelian wirkte nicht so glücklich und erfüllt, wie ich es war. "Adam wird es gut gehen. Der schlägt Steine zusammen", sprach ich ihn an. "Ich dachte nicht, dass es so schlimm ausarten würde...", meinte er bedrückt. Da kamen durch die Tür meine Eltern. Nicht gut! Ganz und gar nicht gut! Vater maulte mich direkt an: "Shiro! Ich fasse es nicht, dass du diesen Unsinn immer noch treibst! Wo bleibt denn dein gesunder Menschenverstand?!". Auch Mutter fuhr mich an: "Hast du gestern im Beichtstuhl nicht genug gesündet?!". Aurelian sah mich skeptisch an: "Du warst gestern im Beichtstuhl...? Wann...?". Großäugig wand ich meinen Blick von ihm ab. "Und wer ist das?", löcherte Mutter mich weiter. Da kamen zwei überaus besorgte Frauen rein. Sie drückten beide Aurelian feste: "Aurelian! Was ist passiert?", "Hast du dich verletzt?". Um Gottes Willen, er hatte zwei Mütter! Panisch hielt ich mir die Hand an den Kopf.

Vater stellte mich weiterhin zur Rede: "Shiro! Antworte!". "Mein neuer Laborpartner", lächelte ich nervös. Da wurden die Frauen auf mich aufmerksam: "Aurelian, du hast einen Laborpartner bekommen?", "Der ist aber ganz schnuckelig". "Nein, bin ich nicht!", rief ich laut ängstlich auf. Aurelian interessierte nur eines: "Shiro...? Wann sahst du gestern im Beichtstuhl...?". Auch meine Mutter kam mir mit Fragen entgegen: "Hat deine Sünde etwa mit ihm zu tun?". Ich versteckte mich langsam in meinem Hoodie. Von allen Seiten wurde ich mit Fragen durchbohrt. Das sollte nicht gut für mich enden...


Oh Lord I'm GayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt