Prolog ✔️

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Lauf weg, bevor er dich holt!", bat sie ihre kleine Tochter eindringlich. Mit großen Augen sah sie diese an und fragte verängstigt: „Wieso? Mama, wieso kommst du nicht mit?" Tränen liefen über ihr Gesicht, Spuren auf ihren Wangen hinterlassend. Das sanfte Licht der Kerzen ließ ihr nasses Gesicht in einem gelblichen Glanz erstrahlen. Wunderschön und rein, im Gegensatz zu der grauenvollen Gefahr, die in den Schatten der Nacht lauerte. „Er ist zu nah, wenn ich mitkomme, sind wir beide verloren." Obwohl sie ihre gesamte Selbstkontrolle aufwandte, um ihre wahren Gefühle vor ihrer Tochter zu verbergen, waren ihre Augen verräterisch glasig. Schon ein paar Sekunden später wurden ihre Wangen ebenfalls von den feuchten Bahnen der Tränen geziert. Es tat ihr im Herzen weh, ihre kleine, unschuldige Tochter wegzuschicken in die weite Welt, in der Gefahren hinter jeder Ecke lauerten. Aber ein Blick aus dem Fenster ihres Hauses sagte ihr, dass sie näher kamen.


Ein letztes Mal hockte sie sich hin, umfasste sie das Gesicht ihrer Tochter mit ihren Händen und wischte ihr die unzähligen Tränen weg. Sie versuchte zu lächeln, während sie der Kleinen in die Augen sah, die vom selben sanften Braun waren wie die ihren. Doch als sie die Mundwinkel hochzog, fühlte sie sich wie eine elende Lügnerin. Eine Hochstaplerin, die leere Versprechungen machte. Sie wollte so tun, als würde alles gut werden. Obwohl sie schon so viele Male an das Gute geglaubt hatte und bitterlich enttäuscht worden war. „Lauf!", flehte sie ihre Kleine an. „Ich will nicht ohne dich gehen!", protestierte diese. Natürlich wollte sie nicht alleine in die dunkle Nacht hinaus. Sie war doch erst vier. Bitterkeit über die Ungerechtigkeit der Welt stieg in ihr auf. „Du musst. Du schaffst das, ich glaube an dich.", drängte sie dennoch weiter. Jede Sekunde war wertvoll. „Kommst du nach?", fragte das Mädchen mit einer zerbrechlich dünnen Stimme. „Ja.", log sie. „Versprochen?" „Versprochen!" Eine weitere Lüge. Das war das letzte Mal, dass ihre Tochter sie sehen würde. Denn sie würde diese Nacht nicht überleben. Aber vielleicht ihre Tochter. „Und jetzt geh!" Sie machte die Hintertür auf und scheuchte das Mädchen sanft, aber eindringlich aus dem Haus. Still stand sie im Türrahmen und sah ihrer Tochter zu, wie sie sich immer weiter entfernte. Wie sie über die von Sternen und Mond erhellten Hügel lief, ohne stehen zu bleiben oder einen Blick zurückzuwerfen. Gut. Nun, da ihre Tochter weg war, ließ sie ihre zuversichtliche Fassade fallen und gab sich ganz den Tränen hin. Denn sie waren schon nah.

Die dunklen Krieger und ihr Anführer. Sie konnte nicht zählen, wie viele es waren, da sie die Dunkelheit wie eine zweite Haut trugen und so nur Silhouetten vor dem sternenübersäten Firmament waren. Nur ihr Anführer, der sich an die Spitze der Schattenkrieger gesetzt hatte, war deutlich zu erkennen. Sie nahm sich ein Messer, die einzige Waffe im Haus, und ging nach draußen. Natürlich war ihr klar, dass sie keine Chance hatte. Aber sie musste ihrer Tochter so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Wenn sie Glück hatte, wurde sie von einem der pervertierten Bastarde aufgeschlitzt, die sich an Blut und Tod ergötzten. Wenn sie Pech hatte, erwischte er sie. Mittlerweile war die Truppe so nah, dass sie jeden einzelnen dieser Verbrecher erkennen konnte. Allesamt waren sie in Kutten gehüllt, die ihre Gesichter in Schatten hüllten. Jeder trug eine Waffe aus schwarzem Metall bei sich, das jegliches Licht zu verschlingen schien. Obwohl die Klingen unbefleckt wirkten, war sie sich sicher, dass sie schon das Blut unzähliger Menschen gekostet hatten. Sie erwartete, ja insgeheim hoffte sie, dass einer der Schattenkrieger vortreten würde und sie mit seiner verfluchten Klinge ausweiden würde. Doch keiner bewegte sich.

Stattdessen trat ihr Anführer vor. Der Einzige, der sich nicht in der Finsternis versteckte. Denn ihm konnte nichts gefährlich werden. Immerhin war er die Gefahr. Auf den ersten Blick könnte man ihn für einen gewöhnlichen jungen Mann halten. Aber sobald man das schlohweiße Haar und die scharlachrot glühenden Augen gesehen hatte, wusste man, dass es kein Entrinnen mehr gab. „Du weißt, wer ich bin. Oder muss ich mich erst vorstellen?", fragte er mich. Seine Stimme klang schön, beinahe melodisch. Aber sein Tonfall ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. So voller Kälte, dass es niemanden gewundert hätte, wenn sich Reif auf die dünnen Halme der Wiese gelegt hätte. „Ich weiß wer du bist, Hoshoku-sha!", zischte die Frau. Angriff schien im Moment die beste Verteidigung. Ihre Abwehrhaltung könnte den Dämon in Menschengestalt vor ihr aus dem Konzept bringen. Und somit ihrer Tochter wertvolle Sekunden schenken. Auch wenn sie lieber auf der Stelle tot umgefallen wäre, um keine Sekunde länger diese alles verzehrende Angst spüren zu müssen. Die Angst vor dem Schicksal, das sie erwartete. Denn dieser Mann war Hoshoku-sha, der Seelenräuber.

Jeder, der das Pech hatte, seinen zerstörerischen Weg zu kreuzen, erlitt ein Ende, das schlimmer als der Tod war. Das Ende seiner gesamten Existenz in der ewigen Finsternis. Niemand wusste, woher Hoshoku-sha kam und niemand wusste, wohin er ging. Und es wusste auch niemand, was er wollte. Manche hielten ihn für einen Mythos, den man kleinen Kindern erzählte, damit sie auch ihr Gemüse brav aßen. Immerhin war es leicht, ihn als Mythos hinzustellen. Kaum einer, der ihn leibhaftig gesehen hatte, hatte überlebt. Doch wenn er dann kam, wusste ein jeder, dass er real war. Er mochte wie ein Schatten sein, flüchtig und ungreifbar, doch er war allgegenwärtig. Im ganzen Land zitterte man vor Angst. Jeder, der schon einmal auf Reisen gewesen war und dabei eines der Geisterdörfer gesehen hatte, die Hoshoku-Sha und sein Gefolge hinterließen, konnte nicht leugnen, dass es ihn gab.

Trotz der lähmenden Furcht, die ihre Gedanken durcheinanderbrachte, versuchte sie, einen Plan zu schmieden. Einen Plan, um dem Schicksal, das sie erwartete, ein Schnippchen zu schlagen. Denn wenn Hoshoku-sha einem die Seele erst einmal entrissen hatte, dann hörte man auf zu existieren. Man kam nicht ins Nachleben, um dort Frieden zu finden. Es gab danach nichts mehr außer der alles verschlingenden Dunkelheit. Deshalb fasste sie einen Entschluss. Wenn schon die blutrünstigen Schatten an Hoshoku-Shas Seite nicht zur Tat schreiten wollten, musste sie das eben tun. Zitternd hob sie das Messer, das sie ursprünglich als Verteidigung mitgenommen hatte, an ihre Kehle. Doch als sie endlich den finalen Schnitt setzen wollte, um das Ganze zu ihren Bedingungen zu beenden, konnte sie sich auf einmal nicht mehr bewegen. Ohne ihr Zutun fiel das Messer auf den Boden. Wie festgefroren stand sie da und starrte den Mann vor ihr an. Zwar wollte sie ihm nicht die Genugtuung geben, Angst zu zeigen, doch ihr rasendes Herz und der schnelle, flache Atem ließen keine Trugschlüsse zu.

Auf dem Gesicht von Hoshoku-sha zeigte sich nun ein höhnisches Grinsen. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich entkommen lasse." Bedrohlich trat er näher, der Ausdruck des Sieges in seinen Zügen leuchtend. „Ich bin stärker als du es dir überhaupt vorstellen kannst. Die Geschichten werden meinen Kräften nicht annähernd gerecht." Wieder ein Schritt mehr auf sie zu. Alles in ihr schrie nach Flucht, aber noch immer konnte sie sich nicht bewegen. Sie wollte schreien, doch sie blieb stumm wie der Nachthimmel. Das einzige Geräusch blieb ihr Herzschlag und ihr Atem.

Hoshoku-sha nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. Beinahe liebevoll. Das ließ das Ganze noch grotesker und unwirklicher erscheinen. Sie wollte zurückweichen, doch wie zu erwarten, konnte sie noch immer keinen einzigen Finger rühren. Die Hände, die ihr Gesicht so umfingen, wie ihre eigenen vorhin das ihrer Tochter, fühlten sich kalt und fremd an. Wieder wollte sie einen Ruf ausstoßen. Alles an dem, was gerade geschah, war so unglaublich falsch. Und wieder blieb ihr flacher Atem der einzige Ton, der die kühle Nachtluft durchschnitt, fast ohrenbetäubend angesichts der Stille. Ihr Gegenüber grinste hochmütig, ein Ausdruck, den sie jetzt schon mit jeder Faser ihres seins verabscheute. In ihrem gesamten Körper begann ein unangenehmes Kribbeln aufzusteigen. Es fühlte sich an, als würden kleine Blitze durch ihre Adern jagen. Dieses elektrisierende Gefühl wurde immer intensiver, bis es schien, als würde man sie lebendig auseinanderreißen. Nun drang endlich ein Schrei aus ihrer Kehle, der markerschütternd die Stille zerriss. Ihr Bewusstsein wehrte sich vehement dagegen, mit Gewalt aus ihrem Körper gerissen zu werden. Doch dieser Kampf war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Unsanft fiel sie zu Boden, was sie aber kaum noch wahrnahm. Langsam verschwamm das Gesicht ihres Mörders vor ihren Augen. Ihr Sichtfeld wurde immer mehr von absoluter Finsternis eingenommen. Die Schmerzen gerieten in den Hintergrund, als die Dunkelheit mit gierigen Händen nach ihr griff. Allmählich verlor sie das Bewusstsein. Ihr letzter Gedanke galt ihrer Tochter, bevor sie endgültig ins Nichts hinabtauchte.

Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt