Vollmondnacht

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Als ich nach draußen trat, war ich erleichtert, da sich das helle Licht des Vollmondes über das Gelände ergoss. Das Weiß des Tempels leuchtete beinahe gespenstisch in dieser lichten Nacht. Die letzten Tage hatte ich die Befürchtung gehabt, dass der Vollmond von Wolken verdeckt sein würde, da es mehrere Gewitter gegeben hatte. Doch nun war keine einzige Wolke mehr zu sehen, die Mond und Sterne verdunkeln können. Auch die Sterne leuchteten mystisch an dem blauschwarzen Nachthimmel. Mir kam es so vor, als würden sie noch heller leuchten als sonst. Vielleicht, weil sie heute Nacht einige ihrer Geheimnisse mit mir teilen würde.

Als Yusei zu mir kam, erhellte sich meine Miene. Nun war es so weit. Ich war so glücklich in dem Moment, dass ich mit dem Strahlen dem Mond schon Konkurrenz machte. Schweigend führte mich Yusei in den Innenhof. Selbst die Blätter der Bäume waren in ein silbriges Licht getaucht. Der Anblick allein war schon magisch. Der Mond stand direkt über dem Hof. In seinem Licht wirkte selbst der banalste Gegenstand plötzlich geheimnisvoll und verführerisch. Doch als ich das Becken sah, blieb mir schier der Atem weg.

Mit andächtigen Schritten bewegte ich mich darauf zu. Die Symbole am Grund des Beckens schimmerten geisterhaft weiß. Das Wasser jedoch reflektierte den Nachthimmel, sodass es aussah, als wäre ein Stück Himmel auf die Erde gekommen. Ich war wie verzaubert von dem Schauspiel, das sich mir bot.

Mir fiel auf, dass es ungewöhnlich still war. Kein Vogel gab einen Laut von sich, keine Grille zirpte im Angesicht der Nacht, kein Windhauch brachte die Blätter der Bäume zum Erzittern. Es schien, als hätte die Natur selbst den Atem angehalten, um diesem magischen Moment beizuwohnen.

Kurze Zeit später fing Yusei zu sprechen an: „Ich lasse dich jetzt allein. Du musst einfach nur das Wasser mit der Hand schöpfen und trinken. Dann musst du abwarten, ob dir ein Einblick in die unendlichen Geheimnisse des Universums gewährt wird." Seine Stimme klang in dieser Abwesenheit von Geräuschen unangenehm laut. Ich nickte. Ich hörte das Knirschen von Kies, als er sich mit schnellen Schritten von mir entfernte.

Ehe ich von dem Wasser trank, sah ich zum Himmel empor und betete stumm, dass ich heute etwas erfahren würde, das mir weiterhelfen konnte. Dann formte ich mit meinen Händen eine Schale. Langsam schöpfte ich das Wasser und führte es zu meinen Lippen. Obwohl es sich in einem geschlossenen Becken befand, schmeckte es ungewöhnlich klar und frisch. Es fühlte sich an, als würde ich flüssiges Sternenlicht trinken.

Beinahe sofort setzte das typische Prickeln der Magie ein. Wie von selbst schlossen sich meine Augen. Mein Bewusstsein für die Gegenwart schwand immer mehr, bis ich mich seltsam losgelöst fühlte. Dann fing ich an, etwas zu sehen.

Ich stand auf einem Hügel und sah auf ein von schauerlichen Gestalten umringtes Haus. Auf dem Boden lag eine zusammengesunkene, reglose Gestalt. Es dauerte kurz, bis ich realisierte, dass das genau der Anblick aus meinem Traum war. Ich ahnte Schlimmes, als ich mich langsam umdrehte. Dort sah ich drei Leute stehen. Ein kleines Mädchen, einen jungen Mann mit weißen Haaren und eine ältere Frau. Vorsichtig schlich ich mich näher. Eine Ahnung, zu schrecklich. um wahr zu sein, formte sich in meinem Kopf. Und zu meinem Entsetzen bewahrheitete sie sich. Der Mann war Hoshoku-sha, dessen war ich mir sicher, da ich schon aus der Ferne diese schauerlichen roten Augen gesehen hatte. Und diese Frau erkannte ich als meine Großmutter! Was nur bedeuten konnte, dass das kleine Mädchen ich war!

Wie in Trance schlich ich mich weiter heran. Dabei fragte ich mich, wieso meine Schritte kein Geräusch verursachten. Dann schoss es mir. Ich befand mich in einer Erinnerung. Und zwar in einer, von der ich nichts geahnt hatte. Nun etwas mutiger überwand ich die letzten paar Schrittlängen, die mich noch von meiner Großmutter trennten.

Als ich nahe genug war, konnte ich die steinerne Miene meiner Großmutter erkennen. Nur eine einzelne Träne, die ihre Wange herunterlief, verriet ihre wahren Emotionen. „Wieso, Tiyo?", fragte sie mit erstickter Stimme. Ohne herabzuschauen griff sie nach der Hand meines jüngeren Selbst. Hoshoku-sha, den sie aus mir unbekannten Gründen Tiyo nannte, bleckte die Zähne wie ein wildes Tier und zischte: „Nenn mich nicht Tiyo. Dieser schwache Junge bin ich nicht mehr." „Stimmt.", gab ihm meine Großmutter mit kalter Stimme recht. „Der Junge Tiyo hätte nie unschuldige ermordet. Er hätte nie meine Tochter ermordet." Nun brach sie doch in Tränen aus. „Und was wirst du jetzt tun, mich töten?", verhöhnte Hoshoku-sha sie. „Nein. Ich bin kein Monster wie du.", schleuderte sie ihm wütend entgegen. „Das stimmt nicht. Du tötest mich nicht, weil ein Teil von dir mich noch immer liebt."

Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt