Unterwegs

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Eine Weile ritten wir schweigend dahin. Nur das leise Rascheln des Grases und ab und an das Schnauben der Pferde durchbrach die beinahe unheimliche Stille. Das silberne Licht des Halbmondes ergoss sich über die sanfte Hügellandschaft und verlieh ihr einen magischen Schimmer. Der Himmel war klar und von Abermillionen Sternen übersät. Ein Gefühl der Ruhe machte sich in mir breit. Ich war wieder in der freien Natur. Ich war wieder an dem Ort, wo es keine Mauern um mich herum gab. Auch wenn es mir auf dem Anwesen nicht schlecht gegangen war, merkte ich jetzt mit voller Wucht, wie sehr ich die Freiheit vermisst hatte. Ich schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte mich ganz auf die kühle Nachtluft, die um mich herum strich. Dann wanderte mein Blick zu Takashi. Obwohl er sich sichtlich Mühe gab, es zu verbergen, wirkte er verloren. Er hatte sein Leben hinter Mauern gefristet. Er hatte nie wirklich erleben können, was es bedeutete, wahrhaft frei zu sein. Die Mauern, die vielleicht seinem Schutz dienen sollten, waren unbemerkt zu einem luxuriösen Gefängnis geworden. Und nun, wo er endlich frei war, wusste er nicht, was er davon halten sollte.

Nach einer Weile brach Takashi das Schweigen. „Wo reiten wir hin?", fragte er etwas hilflos. „Zum Tempel der sprechenden Sterne.", antwortete ich, ohne lange zu überlegen. Erst nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, was ich gesagt hatte. Ich wollte schon etwas hinzufügen, da ergriff Takashi schon das Wort: „Aber der ist doch nur ein Mythos." Ich schüttelte im Kopf. „Ein Fuchs hat mir im Traum mitgeteilt, dass ich den Tempel finden sollte." Nun sah er mich an, als ob ich völlig den Verstand verloren hätte. „Glaubst du denn nicht an das Schicksal?", hakte ich nach. Meine Großmutter hatte mir immer beigebracht, dass jeder Mensch ein Schicksal zu erfüllen hätte. Nur würden viele nicht darauf hören und so ihre Bestimmung nicht erfüllen. Auch Takashi nuschelte als Antwort irgendwas Unverständliches. Ich sah ihn erwartungsvoll an. Schließlich meinte er: „Wieso sollte jeder Mensch ein eigenes Schicksal haben? Sollte das nicht Personen aus bestimmten Kreisen vorbehalten sein?" Da merkte man wieder den arroganten Sohn eines mächtigen Mannes. Trotzdem blieb ich ruhig und erklärte sanft: „Jeder Mensch ist wichtig und einzigartig. Was würdest du essen, wenn es keine Bauern gebe? Wer würde kochen, wenn du keinen Koch hättest? Wer würde sich um die Pferde kümmern, wenn du keinen Stallburschen hättest? Auch wenn all diese Tätigkeiten vielleicht dir nicht liegen oder dich auch nicht begeistern, so heißt es nicht, dass Leute, die genau diese Tätigkeit machen, weniger Wert sind." Meine Wort ließen ihn stumm zurück. „Und außerdem würde mich diese Denkweise auch in einen Topf mit den einfachen Menschen, die du scheinbar so verabscheust, werfen.", setzte ich noch nach. Kaum merklich zuckte er zusammen. Er drehte seinen Kopf zu mir und fing an zu sprechen. „Du hast recht, so habe ich es noch nie betrachtet." Er klang ehrlich zerknirscht.

Dann veränderte sich sein Ausdruck. Er wirkte sanft und liebevoll. So einen Ausdruck hatte ich bei ihm noch nie gesehen. Es lag etwas darin, was ich nicht deuten konnte. Dann fuhr er mit weicher Stimme fort: „Und ich würde dich nie als ein wertloses Bauernmädchen betrachten. Auch wenn ich es lange versucht habe. Aber mit jedem Tag, den ich mit dir verbringen gelingt es mir schlechter, in dir das zu sehen, was mein Vater mir beigebracht hat, in unadeligen Menschen zu sehen. Weil du einfach das genaue Gegenteil von seinen Beschreibungen bist." Einen Moment hielt er inne, als realisierte er erst jetzt, was er gerade gesagt hatte.

Der sanfte Ausdruck verschwand und mit seiner normalen Stimme fragte er: „Mal angenommen, es gibt diesen Tempel, der eigentlich nur ein Mythos ist, wirklich, wie finden wir ihn?" Darauf gab ich keine Antwort. Ich rief mir Tsukikos Worte in Erinnerung. Die Sterne rufen dich und werden dich zu ihnen führen. Ich hielt Arashi an. Verwundert bremste auch Takashi Inazuma ruckartig. Verwirrt sah er mich an. Aber ich beachtete ihn nicht, sondern sah mich um. Hinter mir sah ich nur das Hügelland und den Gebirgszug, von dem ich gekommen war. Vor mir lag ebenfalls ein Gebirge. Allerdings ragte dieses viel höher in den Himmel auf. Die eindrucksvolle Silhouette zeichnete sich pechschwarz von dem sternenübersäten Nachthimmel ab. Schroffe Felsformationen malten ein regelrechtes Kunstwerk in den Himmel. Ein Gefühl sagte mir, dass die Richtung die Richtige war.

„Dorthin müssen wir!", rief ich aufgeregt. Ich sah, wie die Farbe aus Takashis Gesicht wich. „Was ist?", erkundigte ich mich. „Das ist das Grenzgebirge.", meinte er, als würde das alles erklären. „Und?" „Es gab schon einige, die das Gebirge überqueren wollten, um das Land dahinter zu erkunden. Doch keiner von ihnen wurde je wieder gesehen." „Es sagt ja keiner, dass wir das Gebirge überqueren müssen.", widersprach ich. „Na gut.", willigte er schließlich ein. Trotzdem merkte ich, dass ihm das noch immer nicht gefiel.

Wir ritten schweigend weiter. Langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit zu schaffen machte. Aber wir waren hier zu ungeschützt. Wir mussten ein Dorf finden, damit wir auch die Pferde unterstellen konnten. Und auch wenn Takashi nicht viel Ahnung vom Überleben in der Wildnis hatte, das war selbst ihm klar.

Obwohl ich solch sternenklare Nächte mochte, war ich unruhig, weil Takashi mich die ganze Zeit aus dem Augenwinkel ansah. Auch wenn ich ziemlich geduldig war, irgendwann wurden mir seine verstohlenen Blicke zu viel und ich fragte leicht genervt: „Was ist?" Er antwortete nicht sofort. Es sah aus, als müsste er mit sich ringen. Dann meinte er endlich: „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du eine Kitsune bist?" Nun war ich es, die nicht gleich antwortete. Dazu war ich zu überrumpelt. „Woher weißt du das?", stellte ich statt einer Antwort eine Gegenfrage. „Ich habe dich im Spiegel gesehen.", entgegnete er schlicht. Das leuchtete mir ein. Wahrscheinlich war ich einfach zu unvorsichtig gewesen. Nach einem kurzen Moment der Stille fiel mir ein, dass ich ihm immer noch eine Erklärung schuldig war. „Ich wollte nicht, dass du glaubst, ich wäre böse oder würde dich nur manipulieren. Du musst wissen, dass ich erst seit kurzer Zeit meine Kräfte habe. Deshalb will ich auch zum Tempel. Vielleicht erhalte ich dort die Antworten, die ich schon verzweifelt in euren Büchern gesucht habe." „Verstehe.", kommentierte er meine Erklärung knapp. Dann verfiel er in nachdenkliches Schweigen.

Es verging einige Zeit und es war noch immer kein Dorf in Sicht. Nun war ich nicht nur müde, sondern hatte auch Hunger und Durst. Und ich war mir sicher, dass es Takashi ähnlich ging. Langsam hellte das dunkle Blau der Nacht auf. Die Sterne verblassten langsam und auch der Mond wurde immer mehr vom Licht der aufgehenden Sonne verdrängt. Das Blau wurde immer heller und schon bald war der Himmel ein einziges, atemberaubendes Farbenspiel. Wir ritten gerade einen Hügel hinauf. Hoffnung regte sich in mir. Vielleicht würden wir nun ein Dorf finden. Gut wäre es. Und tatsächlich, als wir die Anhöhe bewältigt hatten, sahen wir gleich am Fuße derselben Anhöhe ein Dorf. Takashi und ich sahen uns erfreut an. Wie auf ein geheimes Kommando galoppierten wir gleichzeitig an.

Arashi setzte sich sofort vor Inazuma. Ich spürte jeden seiner kraftvollen Galoppsprünge und der Wind zerrte verspielt an meinen Haaren. In dem Moment gab es nur mich, Arashi und die grenzenlose Freiheit. Rasant näherten wir uns dem Dorf. Arashi hatte Inazuma schon längst abgehängt. Auch er hatte seine Freude am wilden Galopp. Nur mit Mühe konnte ich ihn bremsen. Als er in einen immer noch schnellen Schritt zurückfiel, warf er missmutig den Kopf auf und ab. Er wollte noch länger galoppieren. Und das, obwohl er die ganze Nacht in Bewegung war. Seine Energie schien unerschöpflich zu sein. „Wir werden schon bald wieder galoppieren.", versprach ich ihm und streichelte sanft seinen Hals.

Als Takashi mich erreicht hatte, parierte auch er zum Schritt durch. Anerkennend sah er mich und Arashi an. Ich lächelte erfreut. Im Schritt überwanden wir die paar Schritte, die wir noch zum Dorf hatten. Im Vergleich zur Stadt wirkte es winzig. Es gab auch keine Mauern drumherum und auch die Häuser waren nicht so eng und groß gebaut. Wachen gab es ebenfalls keine. Um die Pferde besser unter Kontrolle zu haben, stiegen wir ab und führten sie am Zügel weiter. Da die Sonne gerade aufging, regten sich im Dorf die ersten Lebenszeichen. Ich war gespannt, was uns dort erwarten würde.

Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt