Unterricht

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Ich saß an einem Tisch in der Bibliothek. Vor mir lagen haufenweise Bücher. Und Takashi war immer noch dabei, weitere heraus zu kramen. Ich fragte mich, ob er es nicht etwas übertrieb mit dem Lernstoff. Nachdem er noch drei Bücher vor mir abgeladen hatte, setzte er sich auf den Stuhl neben mir. „So, dann fangen wir mal an.", meinte er. Ich nickte und richtete meine volle Aufmerksamkeit auf ihn. Er nahm zielsicher eines der Bücher und schlug es auf. „Das ist ein Buch, in denen Karten abgebildet sind. Es gibt Karten vom gesamten Kaiserreich und Karten, die einzelne Gebiete im Detail zeigen. Unser Kaiserreich heißt Sutarando. Es ist in sieben Provinzen aufgeteilt: Oka, Umi, Mora, Yama, Taiyo, Hoshi und Yoru. Der Kaiser ernennt für jede Provinz einen Stadthalter. Dieser hat die Aufgabe, diese im Sinne des Kaisers zu führen und zu verwalten. Soweit alles klar?" Ich nickte. Ich würde zwar eine Weile brauchen, bis ich mir die ganzen Namen gemerkt hatte, aber im Prinzip verstand ich alles. „Dann versuchen wir mal herauszufinden, woher du kommst." Er schob das Buch zu mir herüber. Dann lehnte er sich zu mir, um ebenfalls einen guten Blick darauf zu haben. Ich war mir seiner Nähe jeden Augenblick bewusst. Deshalb versuchte ich mich, auf das Buch vor mir zu konzentrieren. Die Karte darin zeigte ein ziemlich großes Stück Land. Mit dicken, schwarzen Linien wurde die Grenze markiert. Mir fiel auf, dass die Grenze an großen Gebirgen entlanglief und schließlich am Meer endete. Etwas feinere Linien zeigten wohl die Grenzen der Provinzen an. Innerhalb des Reichs befanden sich aber ebenfalls Gebirge. Allerdings waren diese, wenn ich das richtig erkannte, nicht so hoch wie die, die das Kaiserreich umgaben. „Was ist hinter der Grenze?", fragte ich Takashi. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Das weiß niemand, weil niemand jemals von dort zurückgekommen ist." Seine Miene hielt mich davon ab, weitere Fragen zu stellen. „Das ist übrigens die Stadt, die du durchquert hast auf dem Weg hier her.", informierte mich Takashi. Er zeigte auf eine Stadt namens Nishi. Nicht weit davon war ein Gebirge eingezeichnet, das mit „Schweigende Berge" beschriftete war. Man sah, dass das Gebirge bewaldet war. Aufgeregt zeigte ich dorthin und rief triumphierend: „Da komme ich her!" Takashi folgte meinem Finger. Er runzelte die Stirn. „Was ist?", fragte ich. Er sah mich kurz ertappt an, dann antwortete er schnell: „Ich hätte nur nicht gedacht, dass dort jemand lebt." Ich kaufte ihm das nicht so ganz ab, ließ seine Antwort aber mal so stehen. „Lass uns weitermachen.", schlug er vor. Man konnte ihm ansehen, dass er so schnell wie möglich von dem Thema meiner Herkunft ablenken wollte. Die Frage war: Wieso? Aber nun konzentrierte ich mich wieder auf den Unterricht. „Die Provinz, in der wir uns aufhalten, ist die Provinz Oka. Mein Vater hat die Aufgabe, diese Provinz zu führen und ich werde eines Tages seine Nachfolge antreten." Als er mit dies mitteilte, klang er alles andere als begeistert. Obwohl, seinem ganzen Auftreten mir gegenüber mangelte es an Begeisterung. Also schrieb ich dem keine große Bedeutung zu.

Die nächste Zeit erklärte er mir die Lage der Provinzen, ihre jeweiligen Stadthalter und Gebirge, Wälder, Flüsse und Seen. Auch die wichtigen Städte zeigte er mir und schärfte mir ihre Namen ein. Ich erfuhr, dass der Kaiser Yasashi hieß. Er wurde von allen für seine Großmütigkeit und seine enormes Mitgefühl verehrt. Allerdings beschrieb ihn Takashi als „zu vertrauensselig". Er meinte, dass uns Mitgefühl nicht weiterhilft, wenn wir angegriffen werden. Das ließ mich aufhorchen. „Wer sollte uns angreifen?", hakte ich neugierig nach. Das brachte mir einen ungläubigen Blick von Takashi ein. „Du hast wirklich keine Ahnung, was im Kaiserreich vor sich geht, oder?", fragte er und schüttelte den Kopf. Ich verneinte stumm. „Also, was ist los?", forderte ich ihn auf, mir endlich zu antworten. „Nichts.", meinte er knapp. Es kostete mich all meine Kraft, um nicht weiter nach zu fragen. Einerseits brannte ich darauf, zu erfahren, was hier los war, aber andererseits musste ich mir sein Vertrauen erarbeiten und da war es nicht gerade hilfreich, wenn ich ihn zu einer Antwort drängte. Und außerdem schien mir Takashi nicht wie jemand, der schnell nachgab. Also musste ich Geduld walten lassen. Plötzlich stand Takashi auf. „Du kannst dich innerhalb der Mauern frei bewegen, solange du nichts kaputt machst und dich von meinen Gemächern sowie von denen meines Vaters fernhältst. Der Unterricht für heute ist vorbei. Ich empfehle dir, das Buch mit den Karten mitzunehmen und die Geografie des Kaiserreiches Sutarando bis morgen noch einmal eingehend zu studieren." Mit den Worten drehte er sich um und ging.

Kurz saß ich da und schaute ihm hinterher, wie er die Bibliothek verließ. Dann schnappte ich mir das Buch und verließ ebenfalls den Raum. Ich trug das Buch in mein Zimmer. Dort suchte ich mir ein weniger schickes Kleid heraus und zog es mir an. Danach verließ ich das Haus und sah mich erstmal in dem wunderschönen Vorgarten um. Der Duft verschiedenster Blumen hing in der Luft. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Die Sonne strahlte hell und warm vom Himmel und es war kaum eine Wolke zu sehen. Ich war wie gebannt von der Schönheit des Gartens. Bei meiner Ankunft hatte ich diese nicht genug würdigen können, da ich von den Wachen vorwärtsgedrängt wurde. Nun ging ich gemächlich die sorgfältig angelegten Wege entlang. Der Kies knirschte unter meinen Füßen und helles Vogelzwitschern erfüllte die Luft. Doch diese unbeschwerte Stimmung wurde von den Geschehnissen, die hinter mir lagen, getrübt. Und wenn Tsukiko, die Kitsune aus meinen Traum, recht hatte, hatte ich eine Bestimmung zu erfüllen. Eine, mit der eine große Verantwortung einherging. Und ich wusste nicht, ob ich bereit dafür war.

Ich blieb noch eine Weile in dem Garten, dann begab ich mich hinter das Haus, um auch dort mir alles anzusehen. Sobald ich um die Ecke gebogen war, fing etwas meine Aufmerksamkeit. Auf dem Sandplatz, den ich vom Balkon aus gesehen hatte, ritt Takashi auf einem prächtigen Apfelschimmel. Langsam, aber mit kraftvollen Schritten trabte er vor sich hin. Sein Hals war elegant gebogen. Takashi und er bildeten eine hervorragende Einheit. Gemeinsam schwebten sie nur so über den weißen Sand. In vollkommener Harmonie. Nur wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass Takashi sein Pferd mit kleinen Bewegungen der Zügel oder sachten Stupsen seiner Ferse dirigierte. Obwohl sein Gesichtsausdruck höchst konzentriert war, funkelten seine Augen vor Glück. Er sah glücklich aus. Nichts deutete mehr auf die Lustlosigkeit hin, die er mir gegenüber an den Tag gelegt hatte. Er war so konzentriert, dass er nicht bemerkte, dass ich ihn beobachtete. Und das war auch gut so. Denn so konnte ich einen Blick auf den wahren Takashi werfen.


Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt