Reitstunde

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Ich saß wieder einmal mit Takashi in der Bibliothek, um zu lernen. In den letzten Tagen war so etwas wie Normalität eingekehrt. Am Vormittag wurde gelernt und am Nachmittag gab er mir Unterricht im Umgang mit Pferden. Und bei beiden Dingen schlug ich mich eigentlich ganz gut. Lesen konnte ich schon, schreiben fiel mir leicht und Geschichte und Geografie interessierten mich und somit kam ich da ganz gut mit. Nur die Mathematik fiel mir schwer, da mir meine Großmutter nicht mehr als die vier Grundrechnungsarten beigebracht hat. Takashi jedoch erwartete von mir, so etwas wie Gleichungen zu lösen. Er hatte mir erstmal erklären müssen, was das überhaupt ist. Und lösen konnte ich sie erst recht nicht. Aber wenn man Takashi Glauben schenkte, dann war die Mathematik, die er mir beibrachte, nicht essentiell für mein späteres Leben. Deshalb war ich beruhigt. Im Laufe unserer Unterrichtsstunden lernte ich auch Takashis ehemaligen Lehrer Hisho kennen. Er war ein schrulliger alter Mann. Manchmal war er streng und mürrisch, aber er erinnerte mich an meine Großmutter, weshalb ich ihn mochte. Auch er strahlte eine Art ruhige Weisheit aus, genau wie sie.

Normalerweise war ich beim Lernen immer bei der Sache, aber heute war ich hibbelig und konnte nicht ruhig sitzen. Denn heute war es soweit: Ich durfte mich das erste Mal auf ein Pferd setzen. Gestern hatte mir Takashi erklärt, dass ich nun bereit sei. Deshalb war ich voller Vorfreude und mit den Gedanken überall, nur nicht hier in der Bibliothek. Natürlich entging Takashi meine Aufregung nicht. Aber anstatt mich zu ermahnen lächelte er belustigt. Wahrscheinlich konnte er nicht nachvollziehen, wie es für mich war, tatsächlich auf ein Pferd steigen zu dürfen. Natürlich hatte ich immer davon geträumt, aber nie hätte ich erwartet, dass sich dieser Traum auch erfüllen sollte. „Ich glaube, wir hören besser auf für heute.", beschloss Takashi. Scheinbar hatte er wieder etwas gesagt und ich hatte es nicht gehört. Ich nickte zustimmend. Zwischen mir und Takashi hatte sich in der letzten Zeit so etwas wie Freundschaft entwickelt. Allerdings war er mit mir immer noch nicht ganz ehrlich, das hatte ich im Gefühl. Denn jedes Mal, wenn ich ihn nach dem, was im Kaiserreich los war, fragte, wich er mir aus. Auch über den Tempel der sprechenden Sterne hatte ich nichts herausgefunden. Ich hatte ihn zwar nach den Namen der existierenden Tempel gefragt, aber unter seiner Aufzählung war der Tempel der sprechenden Sterne nicht vorgekommen. So langsam bestätigte sich mein Verdacht, dass es kein gewöhnlicher Tempel war. Am liebsten würde ich Takashi einfach direkt danach fragen, aber ich wollte nicht, dass er irgendetwas von meiner wahren Natur ahnte. Auch wenn ich definitiv nichts Böses im Schilde führte, so waren Kitsunes doch dafür bekannt, dass sie Menschen gerne mithilfe ihrer Illusionen in die Irre führten. Gehen wir jetzt in den Stall?", fragte ich ungeduldig. „Ja, wenn du dann endlich Ruhe gibst.", grummelte er, konnte sich aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

Für meine erste praktische Reitstunde holte ich Yuki von der Koppel. Yuki bedeutete Schnee, was wirklich perfekt zu der schneeweißen Schimmelstute passte. Die letzten Tage hatte ich mit ihr am Boden gearbeitet, weil sie das ruhigste und gutmütigste Pferd im Stall war und deshalb perfekt für mich als Anfängerin geeignet war. Auch von der Größe her war sie kleiner als die meisten anderen Pferde. Ich konnte über ihren Rücken sehen, was aber auch kein Wunder war, da ich ziemlich groß war. Als hätte ich das schon mein ganzes Leben gemacht, führte ich sie in den Stall und band sie vor ihrer Box an. Genauso wie bei Arashi hing auch an ihrer Bok ein schwarzes Schild, auf dem in verschnörkelter, goldener Schrift „Yuki", stand. Ich putzte sie und holte dann Sattel und Zaumzeug aus der Sattelkammer. Ich kämpfte ein wenig mit dem Gewicht des Sattels, aber ich wollte Takashi unbedingt beweisen, dass ich keine Hilfe mehr beim Satteln eines Pferdes brauchte. Auch wenn mich die ganzen Riemen immer noch verwirrten und ich für das Aufsatteln mehr Zeit als Takashi benötigte, schaffte ich es. Ich bot all meine Kraft auf, um den Sattelgurt so fest wie möglich zu ziehen, danach machte ich mich ans Aufzäumen. Dafür brauchte ich zwar nicht so viel Kraft, da Yuki brav stillstand, aber dafür waren da mehr Riemen. Konzentriert schloss ich die Augen, welche Riemen ich jetzt nochmal brauchte, um das Zaumzeug zu befestigen. Nach kurzer Zeit fiel es mir wieder ein. Denn Kehlriemen und den Nasenriemen. Und wenn ich mich richtig erinnerte, sollte der Kehlriemen nicht zu fest sitzen. Ich probierte ein bisschen herum, bis ich das Gefühl hatte, dass es richtig saß. Sanft streichelte ich Yuki, als Belohnung, dass sie meine unbeholfenen Versuche so geduldig ertragen hatte. Ich sah Takashi fragend an. Er nickte und gab mir somit die Bestätigung, dass ich alles richtig gemacht hatte. Beinahe kindlicher Stolz erfüllte mich. Nur leider würde ich diese kindlichen Züge, die immer noch einen Teil meines Wesens ausmachten, schnell loswerden. Denn wenn ich den Worten der Kitsune Tsukiko Glauben schenkte, wartete eine Bestimmung auf mich, die Verantwortungsbewusstsein erforderte. Auch wenn es wehtat, musste ich mich von meiner Kindheit in den Bergen, von der Vergangenheit, in der alles gut war, verabschieden. Doch ich schob meine Trauer beiseite. Die Vergangenheit war geschehen und hatte mich zu der gemacht, die ich heute bin, aber die Zukunft wartete darauf, von mir geschrieben zu werden. Und auch wenn ich nicht wusste, was meine Zukunft für mich bereithalten würde: Heute würde ich reiten lernen und das war heute ein Grund, optimistisch auf sie zu blicken.

Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt