Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie erschlagen. Ich hatte nicht gut schlafen können. In meinen Träumen war ich in der Dunkelheit gewesen und das einzige, was ich gesehen hatte, waren diese rot glühenden Augen, die scheinbar allgegenwärtig gewesen waren. Egal wie schnell ich gelaufen war, sie hatten mich immer aus den Schatten heraus angesehen. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, hatte ich permanent die Schreie meiner Großmutter gehört, als Hoshoku-sha sie mir genommen hat. Noch immer saß das Grauen der Nacht in meinen Gliedern. Mein Atem ging stoßweise, als wäre ich tatsächlich eine ganze Nacht lang gelaufen und auch mein Herz raste.
Ich blickte mich um, damit ich etwas hatte, was mir half, wieder in die Realität zu kommen und diesen schrecklichen Traum in den Hintergrund zu drängen. Ich sah hinauf zu dem grünen Blätterdach. Vereinzelte Lücken ließen mich erkennen, dass der Himmel von sturmgrauen Wolken übersät war. Der Wind wehte und brachte die Blätter zum Rascheln und streifte kühl meine Haut. Ich schloss die Augen und atmete tief den vertrauten Duft des Waldes ein. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder und auch mein Atem ging wieder normal. Nun fühlte ich mich auch nicht mehr ganz so erschlagen. Zwar war ich noch müde, aber der Wald weckte meine Lebensgeister. Jetzt wurde mir erst so richtig bewusst, wie sehr mir der Wald in der Zeit auf Takashis Anwesen gefehlt hatte. Der Duft des Harzes, des Mooses und der Erde. Das Rascheln der Blätter. Die Tiere, die umherstreiften. All das waren Dinge, die mir Halt und ein Gefühl von Zuhause gaben. Ich würde nie jemand sein, der auf Dauer in einer großen Stadt, fern des Waldes, leben könnte.
Nachdem ich nun endlich zur Ruhe gekommen war, kletterte ich flink vom Baum. Inazuma und Arashi standen da, einen Hinterhuf aufgestellt und die Augen geschlossen. Ich erinnerte mich daran, dass mir Takashi erklärt hatte, dass Pferde im Stehen schliefen und sich nur zum Schlafen hinlegten, wenn sie sich absolut sicher fühlten. Takashi hingegen lag noch auf dem Boden. Er hatte sich aus einer Decke, die er mitgenommen hatte, ein kleines Nest gebastelt. Er lag seitlich da und hatte die Beine an sich herangezogen. Aus seinem Mund drangen leise Schnarchgeräusche. So zusammengerollt am Boden sah er so lieb und unschuldig aus. Wie ein kleiner Junge. Nichts erinnerte an den mürrischen, distanzierten Mann, den ich kannte. Oder zumindest den Mann, der in meiner Gegenwart war. Bei Hisho hatte ich gesehen, dass er tief und innig lieben konnte. Dass er sanft und feinfühlig sein konnte. Auch bei mir hatte er in manchen Momenten sanft gewirkt. Nur um im nächsten Moment wieder distanziert zu sein. Je länger ich nachdachte, desto weniger schlau wurde ich aus ihm. Tat er so, als würde er mich mögen oder war das Gegenteil der Fall? Ich war mir nicht sicher.
Es dauerte nicht lange, bis er ebenfalls aufwachte. Kurz sah er sich um, als hätte er vergessen, wo er war. Seine Haare waren zerzaust und kleine Blätter, die wohl in der Nacht herabgefallen waren, hingen darin. Langsam rappelte er sich auf. „Und, gut geschlafen?", fragte ich ihn und grinste. „Für die Tatsache, dass ich mein gemütliches Bett gewöhnt bin, gut. Aber zum Glück müssten wir heute Abend am Tempel ankommen. Wenn es ihn denn gibt." Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. Scheinbar war er immer noch nicht völlig davon überzeugt, dass es den Tempel wirklich gab. Diesmal ließ ich mich aber auf keine Diskussion ein, weil ich sowieso keine Chance hatte, ihn restlos von der Existenz des Tempels zu überzeugen. Spätestens wenn wir dort waren, würde er sich eingestehen müssen, dass ich recht hatte. Und ich war mir sicher, dass ich recht hatte. Selbst wenn ich keinen wirklich greifbaren Beweis dafür hatte, so sagte mir mein Gefühl, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Um wirklich noch heute unser Ziel zu erreichen, machten wir uns umgehend auf den Weg. Mithilfe eines Baumstumpfes schwang ich mich erstaunlich leichtfüßig auf Arashis Rücken. Wir hatten beschlossen, heute ein paar mehr Trab- und Galoppstrecken einzulegen. Deshalb fingen wir, sobald wir wieder aus dem Wäldchen heraus waren, an zu traben. Eine Weile trabten wir schweigend dahin. Das stete Auf und Ab im Sattel ließ mich zur Ruhe kommen. Ich beobachtete sie vorbeiziehende Landschaft. Das Gras wurde sanft vom Wind zerzaust. Die Wolken und der schwere Geruch des Regens verrieten, dass es wohl bald regnen würde. Die Luft war angenehm kühl und so wurde mir trotz der Bewegung nicht heiß.
Nach einer Weile machten wir eine Schrittpause. Noch immer hatten wir kein Wort gewechselt. Jeder hing seinen Gedanken nach und das war auch gut so. Auch wenn Reden oft verlockend war, so war das Schweigen schon immer eine Tugend, die nur wenige beherrschten. Schweigen klang einfach. Aber es war doch eine Kunst, gemeinsam schweigen zu können, ohne dass es unangenehm wurde oder jemand den irrationalen Drang verspürte, etwas zu sagen. Denn ohne Worte wurden manchmal die wichtigsten und ureigensten Dinge der Menschen übermittelt, die sonst im Rausch der Worte untergingen.
Irgendwann fing es zu regnen an. Es war zwar nur ein leichter Nieselregen, aber wenn man Takashi so ansah, mochte man glauben, dass der Himmel einen wasserfallartigen Wolkenbruch auf uns niederließe. Missmutig starrte er gen Himmel und senkte dann den Kopf, um möglichst keine Wassertropfen abzubekommen. Ich hingegen reckte mein Gesicht den Wolken entgegen und ließ das kühle Nass sanft auf mein Gesicht prasseln. Regen war etwas Wunderbares, auch wenn das viele nicht so sahen. Doch er spendete ebenso wie die Sonne Leben. Sein kühles Nass erfrischte Körper und Geist gleichermaßen. Ohne ihn würde alles vertrocknen und vergehen. Kein Lebewesen könnte ohne ihn leben. Irgendwann würde ich versuchen, Takashis Augen für die Wunder der Natur zu öffnen. Ihn lehren, in allem versuchen, das Gute zu sehen. Ich würde versuchen, Großmutters schier unendliche Weisheit mit ihm zu teilen. Vielleicht könnte er dann meine Neigung, allem und jedem positiv und unvoreingenommen zu begegnen, verstehen. Doch damit würde ich noch warten. Noch war er nicht gänzlich bereit dazu, die Lehren seines Vaters hinter sich zu lassen. Auch wenn er schon, wenn auch eher widerwillig, eingesehen hatte, dass einfache Leute Respekt verdienten, war es bis zur völligen Überwindung seiner Erziehung noch ein weiter Weg.
Den restlichen Tag ritten wir beinahe ununterbrochen dahin. Zu Takashis Leidwesen verstärkte sich der Regen. Trotzdem bleiben wir unbeirrt auf unserem Weg. Das Gebirge schien schon zum Greifen nahe. Und als es schon langsam dunkel wurde, waren wir tatsächlich am Fuße des Gebirges angelangt. Mir stockte der Atem, als ich die schier unendlichen Felsmassen, die sich vor mir aufbauten, nun aus nächster Nähe sah. Der untere Teil des Berges direkt vor uns war bewaldet. Die Bäume waren höher als ich es gewohnt war, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sich im Wald wirklich ein Tempel verbarg. Meine Intuition jedoch sagte mir, dass ich genau am richtigen Ort war. Wie ferngesteuert ritt ich auf den Wald zu. Ein Problem jedoch war, dass es keinen ersichtlichen Weg hinauf gab. Aber mein Gefühl drängte mich, an einer besonders dichten Stelle in den Wald zu reiten. Takashi, der hinter mir ritt, protestierte, aber ich hörte nicht, was er sagte. Als ich schon jeden Moment gegen die dichten Bäume prallen müsste, sah ich plötzlich vor mir einen schmalen Pfad, der fast völlig vom Schatten der umliegenden Bäume verdunkelt wurde. „Komm!", forderte ich Takashi auf. Er murmelte zwar etwas davon, dass wir anstehen würde. Er keuchte überrascht auf, als sich auch ihm der Anblick des Weges bot. Ich sah ihn triumphierend an. Verlegen wich er meinem Blick aus.
Es wurde immer dunkler. Nun sah ich die Welt nur noch in silbrigen Grautönen. Takashi musste inzwischen halb blind sein. Aber da er ja wusste, dass ich als Kitsune eine gute Nachtsicht habe, vertraute er wohl mir, dass ich den Weg fand. Auf einmal überkam mich ein ungutes Gefühl. Es war, als würde mich ein Schatten verfolgen. Ein leises, kaum wahrnehmbares Rascheln ließ mich erschrocken zusammenzucken. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Wir waren im Wald, da raschelte es manchmal, wenn sich Tiere ihren Weg durchs Unterholz bahnten. Trotzdem wurde ich das schlechte Gefühl nicht los. Nervös ließ ich meinen Blick immer wieder umherschweifen. Zwischen den Bäumen war es so dunkel, dass selbst ich nichts als alles verschlingende Schwärze sah. Plötzlich erstarrte ich. Für einen Moment sah ich in der Dunkelheit zwei rote Punkte aufleuchten. Mein Herz schlug wie wild. Sekunden später war diese Erscheinung wieder weg. Noch immer war ich zum Zerreißen angespannt. Obwohl ich mir das sicher nur eingebildet hatte, trieb ich Arashi an. Ich wollte so schnell wie möglich Zuflucht im Tempel suchen.
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Obwohl ich eigentlich kaum Zeit hatte, habe ich mich trotzdem am Abend nach der Fahrschule noch hingesetzt und ein Kapitel geschrieben. Extra für euch! Das nächste Kapitel wird wahrscheinlich am Wochenende kommen. (Eigentlich hätte das Kapitel schon gestern Abend kommen sollen, aber das Internet war down)
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Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]
FantasyBand eins Yuna lebt mit ihrer Großmutter abgeschieden in den Bergen. Von der Welt abseits ihres Zuhauses weiß sie nichts. Auch Magie existiert für sie nur in den Geschichten ihrer Großmutter. Eines Tages jedoch stirbt ihre Großmutter unter mysteriös...