Das letzte Jahr

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Jonathan

Es war merkwürdig, dass Allana nicht an meiner Seite war, als ich mich zum Bahnhof Kings Cross begab. Normalerweise waren wir immer gemeinsam zum magischen Gleis des Londoner Bahnhofs gegangen.
Über die Jahre hinweg waren wir einander so vertraut geworden, dass mir nun um so mehr die Leere auffiel, die ihre Abwesenheit hinterließ.
Ich drehte den Kopf, um ihr etwas zuzumurmeln, aber neben mir war niemand. Ich tastete nach ihren Fingern und griff ins Leere.
Ich wusste, dass dieses Gefühl auf Hogwarts sich noch intensivieren würde. Dies war der Ort, an dem wir zusammen aufgewachsen waren. Sie an meiner Seite und ich an ihrer.
Es würde ein fremdartiges Jahr werden.
Doch nicht nur Allanas Abwesenheit würde dieses Jahr auffallen. Es würde keine Interaktionen mehr mit Hermine und Potter geben - zumindest nicht auf Hogwarts.
Durch die Todesser würde sich auch sicherlich die allgemeine Atmosphäre in der Schule verändern. Nicht nur im Unterricht, sondern in allen möglichen Bereichen. Es würde striktere Regeln geben. Mehr Testverfahren, um die Fähigkeiten der Schüler zu beurteilen. Gezielte Förderung der Dunklen Künste und Verbreitung der neuen Werte.
Es würde dauern, bis Schüler die Maßnahmen akzeptieren würden und ich hoffte wirklich, dass es kein Aufbegehren gab.
Um ihretwillen.
Denn ich wusste nicht, welche Konsequenzen sonst folgen würden.

Ich erreichte Gleis Neundreiviertel stilvoll spät. Die meisten Schüler befanden sich also bereits in den Abteilen der roten Dampflock.
Mir war das ziemlich Recht, denn ich würde dieses Jahr zweifellos noch genug Aufmerksamkeit erhalten.
Einzig und allein die Familien der Schüler befanden sich noch am Gleis und verabschiedeten sich winkend von ihren Kindern.
Ein Privileg, das ich nie gehabt hatte.
Um mich herum hatte sich inzwischen eine merklich freiere Fläche gebildet. Eltern zogen jüngere Familienangehörige hinter sich. Einige von ihnen bedachten mich mit betont starren Blicken, andere drehten hastig den Kopf, wenn meine Augen über sie schweiften.
Man erkannte mich nun.
Kurios.
Ich zuckte gedanklich die Schultern. Daran würde ich mich wohl gewöhnen müssen.
Mit einem kleinen Schlenker des Zauberstabs manovrierte ich meinen Koffer durch die Zugtür. In dem Gang befanden sich noch ein paar schwatzende Drittklässler. Als sie mich sahen, verstummten sie aprupt und flohen hastig in ihre Abteile. Ihre Augen folgten mir, als ich vorrüberging.
Der einzige Vorteil am Fernbleiben vieler Schüler war, dass ich problemlos ein freies Abteil fand.
Ich hiefte den Koffer auf den Sitz neben mich und spürte ein leichtes Ruckeln, als der Zug anfuhr.
Ich blickte aus dem Fenster. Die roten Backsteine verschwammen zu einer unförmigen Masse, als der Zug an Fahrt aufnahm und schlussendlich den Bahnhof hinter sich ließ. Brücken, Straßen und graue Häuser wichen nach und nach Feldern und hügeligen Wiesen, auf denen Kühe und Schafe grasten.
Bald würde ich Hogwarts erreichen.

Ich sollte mit Luna sprechen.
Meine Aufgabe hier war es, dafür zu sorgen, dass unter den Schülern keine Unruhen entstanden. Und Luna wäre definitiv eine solche Unruhe. Sie war Mitglied der DA, eine Freundin von Potter und besaß auch außerhalb der Schule Einfluss - Dank ihres Vaters.
Ich könnte sie überzeugen, nicht zu rebellieren und sich nicht sinnlos in Gefahr zu bringen.
Von allen Schülern war sie mir gegenüber noch am aufgeschlossensten und wer weiß ... vielleicht könnte sie Neville, Ginny und die anderen Bandenmitglieder überreden, sich nicht in das Visier der Carrows zu begeben.
Dann würden wir alle ein wesentlich angenehmeres Schuljahr haben.
Ich seufzte und erhob mich. Meine Schuluniform trug ich bereits, was gut war. Ich rückte die grüne Krawatte gerade. Nach kurzen Zögern befestigte ich außerdem den goldenen Stecker mit dem S für Schulsprecher an meinem Hemd.
Ich musste ein gewisses Maß an Autorität ausstrahlen. Es ging jetzt in erster Linie darum, keinen falschen Eindruck zu hinterlassen. Ruhig bleiben, aber bestimmt.
Es würde in den nächsten Wochen essenziell sein, Respekt zu erlangen. Andernfalls würde es in der Schule definitiv zu Unruhen kommen, die sich vermutlich in erster Linie gegen mich richten würden. Die ich herzlich wenig gebrauchen konnte.
Unruhen, die zugegebenermaßen aber auch nicht ganz unberechtigt sein würden, bedachte man die Art meines Abgangs aus Hogwarts vor mehreren Wochen. Ohne Zweifel hasste Ginny Weasley mich nun mehr als je zuvor.
Aber eins nach dem anderen.
Ich öffnete die Glastür und trat hinaus.
Vermutlich würde Luna sich am Anfang des Zuges befinden ... dort hielten sich meistens die Ravenclaws und Gryffindors auf.
Und alle Augen würden auf mich gerichtet sein.
Ein leises Stimmchen riss mich plötzlich aus meinen Gedanken.
,,Ver- Verzeihung, wissen Sie- Du, wann wir die Schule erreichen?"
Es war ein kleiner Junge, der gesprochen hatte. Er trug noch immer seine Muggelklamotten und blickte mich aus großen Augen an. Das Kind schien nervös zu sein. Es war allerdings nicht die Art von Nervösität, die auftrat, wenn man mit dem leiblichen Sohn des dunkelsten Magiers Großbritanniens sprach, der obendrein noch das Dunkle Mal besaß.
Nein.
Es war die Art von Nervösität, die auftrat, wenn man einem älteren, fremden Jungen eine Frage stellte.
Ein Verdacht keimte in mir auf.
Ich ging ein wenig in die Knie, sodass das Gesicht des Knirpses sich auf meiner Augenhöhe befand. Dann warf ich kurz einen Blick auf meine Uhr. ,,Ich denke, in etwa ein oder zwei Stunden werden wir da sein. Ist das dein erstes Jahr auf Hogwarts?"
Nun nickte der Kleine eifrig und Begeisterung blitzte in seinen Augen auf. ,,Ich wusste schon immer, dass ich irgendwie anders bin, weißt du? Und ... und dann habe ich diesen Brief mit meiner Adressse bekommen und ich kann wirklich zaubern ..."
Die Worte des Jungen bewiesen mir, was ich schon längst vermutet hatte: Er war muggelstämmig.
Er hatte den Hogwarts-Brief erhalten, als das Ministerium noch nicht unter Voldemorts Kontrolle gestanden hatte und natürlich hatte es später niemand für nötig befunden, ihm zu schreiben, dass Muggelstämmige Hogwarts nicht mehr besuchen durften. Beziehungsweise, die Nachricht wurde nur im Tagespropheten veröffentlicht. Auf welchen Muggelstämmige im ersten Jahr natürlich keinen Zugriff hatten.
Dem Jungen war es nicht gestattet, Hogwarts zu erreichen. Er durfte Hogwarts nicht erreichen, vor allem, wenn man bedachte, dass das Schloss nun von Todessern kontrolliert wurde.
Ich beugte mich zu dem Knirps herunter. ,,Also, Junge ... geh bitte zurück in dein Abteil ... wo ist das?"
Das Kind deutete den Gang hinunter. ,,Dort hinten."
Ich nickte. In die Richtung musse ich ohnehin, dann musste ich also zumindest keinen so weiten Weg zurücklegen, um den Jungen zu holen.
,,Ähm ... soll ich die Schuluniform eigentlich schon anziehen? Weil ... du hast deine auch schon an ..."
,,Nein. Das hat noch Zeit."
Du wirst sie nicht benötigen.
Ich schob den Jungen in die Richtung seines Abteils. ,,Jetzt geh. Ich habe noch etwas zu erledigen."
Ich beobachtete, wie das Kind durch eine der Glastüren stolperte und dann aus meinem Blickfeld verschwand.
Seufzend erhob ich mich und hielt weiter Ausschau nach der verträumten blonden Schülerin.

Sein Vermächtnis (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt