MI SOG DIE Ruhe in sich auf wie Sauerstoff. Die Steinmauer, an der sie lehnte, kühlte ihren Kopf und trieb die Gedanken fort. Ihr müder Blick wanderte im Zimmer herum, ohne irgendwo hängenzubleiben. Der Raum, in dem sie saß, war nicht nur winzig, sondern auch leer. Keine Möbel, kein Staub, keine Tracer und keine Menschen waren hier. Keine Fenster und kein Licht. Nichts und niemand konnten ihre Kopfschmerzen noch weiter verstärken. Nicht mal die farblosen Wände trübten ihr Gemüt.
Ihre Finger fuhren durch die blauen Strähnen und einige Haare blieben an der Hand hängen. Das tote Material leuchtete durchdringend in der intensiven Farbe, die ihr vertraut war. Vertraut und doch so fremd. Als sie nach ihrem Erwachen in den Spiegel gesehen hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt. Das Blau war ihre Mähne hinabgeklettert und verdrängte das Blond fast gänzlich. Ihre Kehle schnürte sich zu, als nehme ihr die Farbe die Luft zum Atmen. Sie schüttelte die abgestorbenen Haare von sich und wischte ihre Hände an der Hose ab.
Zum Glück hatten alle wortlos zugelassen, dass sie sich vorerst einige Stunden zurückzog. Es war ein widersprüchliches Ziehen, das sie dazu gedrängt hatte. Einerseits wog die Einsamkeit schwer in ihrer Brust, andererseits verweigerte ihr Kopf all die lauten Stimmen. Es waren zu viele. Zu lange war sie mit ihren Gedanken alleine eingeschlossen gewesen. Doch etwas in ihr hatte sich daran gewöhnt. Das war ein schmerzhafter Prozess gewesen, doch nun konnte sie diese Pein besser ertragen als die Außenwelt.
Gedanken. Einhundert Gedanken durchströmten ihren Kopf. Mi ließ ihre Hände in den triefend blauen Haaren versinken und zog an ihnen, damit sich die Bilder vor ihrem inneren Auge verzogen. Es half nicht. Die Erinnerungen bahnten sich ihren Weg durch die weit offen stehenden Kanäle. Wach zu sein, war anstrengend. Doch das machte den vergangenen Schlaf nicht erholsam. Lucette hatte sie in einen Albtraum befördert, der tief in ihren Knochen saß. Er war jederzeit bereit, seine Krallen auszufahren und sie in düstere Welten zu ziehen.
Lucette. Mi rieb sich übermüdet die Augen. Diesen Namen konnte sie kaum noch in Gedanken fassen. Er war so verschwommen wie alles in jener Nacht, in der die Tracerin sie überfallen hatte. Jedes Mal, wenn sie über die Gründe für ihr Verhalten nachdachte, schoss ein klarer Gedanke wie eine Glasscherbe in ihren Kopf. Sie wollte Mi tot sehen. Obwohl Tracer nicht sterben konnten, hatte sie das Unmögliche möglich gemacht und sie zum Schweigen gebracht. Keine Angst benetzte ihre Haut, als sie darüber nachdachte. Nur Wut brannte in ihr lodernd und nährte sich aus jedem Funken Furcht, der an die Oberfläche zu kriechen versuchte.
Wie Lucette es gemacht hatte? Wusste Mi nicht mehr. Je stärker sie sich auf die Geschehnisse konzentrierte desto heißer brannte das Feuer in ihrem Kopf. Keine Chance. Es gab nur eine Erinnerung, die ihr Trost spendete. Eine junge Frau mit braunen kurzen Haaren, die durch eine Tür lief. Sie drehte sich nicht um, sondern flüchtete mit zusammengezogenen Schultern aus einer Wohnung. Ihr ängstlicher Atem hallte durch den Vorraum und verschwamm in Mis Gedächtnis zu einem Brei aus gedämpften Geräuschen. Freude kribbelte in ihren Fingerspitzen, als sie die Erinnerung wie einen Film mehrmals abspielte. Das stammte aus ihrem alten Leben. Ganz sicher. Ihr Herz schlug höher, wenn sie daran dachte.
DU LIEST GERADE
Alles Blau || ehem. Everything is Blue
Paranormal❝Geheimnisse, die danach zu streben scheinen, gelüftet zu werden. Erinnerungen, die danach schreien, wiedergefunden zu werden. Schicksale, die ganze Weltanschauungen in die Leere drängen.❞ ·•· Monate sind bereits vergangen, seitdem die »Extremisten«...