STUNDEN VERBRACHTEN DIE eifrigen Tracer in den Gängen der Bibliothek. Sie blätterten unzählige Bücher durch, studierten endlose Theorien und hatten keineswegs die Absicht aufzugeben. Während ihre müden, rot gewordenen Augen die Zeilen überflogen, nistete sich immer wieder der Gedanke in ihren Verstand ein, dass es einfach keine Möglichkeit gab, dass Tracker, beziehungsweise Tracer in einer derartigen Art krank wurden, wie Mi es war. Theoretisch war es möglich, dass sie auf brutaler Weise gefoltert wurden und dennoch blieb ihre Rasse während den Qualen vollständig bei Bewusstsein. Sie konnten nie in ein Koma fallen, so wie es Menschen taten; entweder der Tracker war wach, schlief oder er war tot.
Was Rae so mitbekommen hatte, forschten Angel und Ayame vorwiegend im Bereich des Lebendigseins und des Totseins nach. Bekanntlich starb die Mehrheit der Tracker an der natürlichsten Todesart, die es gab, nämlich der Altersschwäche. Rae kannte nicht einmal Fälle, in denen Tracker auf einer nicht natürlichen Art gestorben waren. Zwar wusste sie, dass es theoretisch möglich war auch anders zu sterben, doch in der Praxis gab es das einfach nicht. Das lag vor allem daran, dass fertig ausgebildete Tracker, die sich dazu entschlossen, auf die Erde zu ziehen, ihre Identität geheim hielten. Sie konnten unter den Menschen leben, als wären sie selbst welche und gleichzeitig alles tun, was auch dem Homo Sapiens zustand. Sollte ihre Bestimmung sein, dass sie beispielsweise Opfer eines Anschlags wurden, entkamen sie dem Tod wegen ihrer Knochen aus Stahl. Diese Schicksalsschläge trafen Menschen mit voller Wucht, während Tracker ihnen geschickt ausweichen konnten. Denn niemand erwartete derart ungewöhnliche Kräfte oder suchte gezielt ausgerechnet einen Tracker. Zwar war es so, dass sie mit den Menschen zusammen arbeiteten, beziehungsweise lebten, doch wussten sie oft viel mehr als sie, alleine aufgrund des Wissens über die Existenz ihrer Rasse.
Während die anderen beiden Tracer fleißig nachforschten, führte Rae aus reiner Neugier ein Gedankenexperiment durch. Hatte rein theoretisch ein Mensch die Absicht, einen Tracker zu ermorden, musste er ihn dafür einfangen. Anders ging es einfach nicht. Denn wenn er versuchen würde, ihn zu erstechen, vergiften oder zu erschlagen, würde das nichts bringen, da der Tracker dagegen schließlich nahezu resistent war. Eine größere Krafteinwirkung konnte ihm möglicherweise gefährlich werden, doch auch hier setzte es eine Gefangennahme voraus. Überhaupt war das Einfangen des Trackers sowieso hoffnungslos. Der Tracker konnte sich durch Wände beamen - wozu Tracer übrigens noch gar nicht imstande waren - und so relativ schnell abhauen. Rae aber stellte sich gedanklich vor, dass man das nun trotzdem bewältigt hatte. Was wäre dann?
Der Tracker konnte nun entweder durch eine eben sehr große Krafteinwirkung sterben, was allerdings viel Geld und Aufwand voraussetzen würde oder man ließ ihn auf einer natürlichen Todesart verenden. Theoretisch konnte man den Tracker verhungern, verdursten oder ersticken lassen, doch wie lange würde das dauern? Bekanntlich starb ein Mensch auf diese Weise relativ rasch, aber was war mit dem Tracker? Überhaupt, wenn man dazu auch noch beachtete, dass er entweder wach oder tot war?
Schließlich schüttelte sich Rae doch noch, bei der Vorstellung ihres Gedankenexperiments. Besser sie erzählte niemandem, was in ihrem Kopfkino so vorging, während sie sich langweilte und den anderen beim Lesen von wissenschaftlichen Lektüren zusah. Sie liebte Gruselgeschichten und fand es manchmal faszinierend, sich derartige Dinge durch den Kopf gehen zu lassen, aber heute war ihr der Gedanke daran, dermaßen schmerzhaft zugrunde zu gehen, doch grauenhaft. Im Endeffekt kam sie zwar zu dem faszinierenden Entschluss, dass Tracker einfach Überlebenskünstler waren und sie dazu gebaut waren, allen Gefahren zu entkommen, doch irgendwie war es trotzdem verrückt. Niemand wusste von den Trackern, also konnte auch niemand derartige Absichten haben. Sie waren Meister im Überleben, aber wozu? Was war der Sinn dahinter?
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Alles Blau || ehem. Everything is Blue
Paranormal❝Geheimnisse, die danach zu streben scheinen, gelüftet zu werden. Erinnerungen, die danach schreien, wiedergefunden zu werden. Schicksale, die ganze Weltanschauungen in die Leere drängen.❞ ·•· Monate sind bereits vergangen, seitdem die »Extremisten«...