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Ian

»Wo fährst du hin«, will Lea wissen und schaut sich verwirrt um, als ich nicht in Richtung Wohnhäuser abbiege, sondern stattdessen das Campusgelände verlasse und auf die Straße abbiege, die aus der Stadt führt. »Ian?«, fährt sie mich an und zieht an meinem Arm, als ich nicht reagiere. Ich bin noch immer mit dem Gedanken beschäftigt, dass es größere Arschlöcher als mich in ihrem Leben gibt. Was ist passiert, als ich nicht mehr für sie da war? Ich will es wissen, damit ich weiß, auf wen ich meine Wut konzentrieren kann.

Ich grinse sie an, dann zucke ich mit den Schultern. »Etwas mehr Geduld«, sage ich. »Oder hattest du heute noch etwas anderes vor?«

»Du weißt genau, was ich heute noch vorhatte«, sagt sie. Dann klappt ihr Mund auf. »Verdammt, ich habe Ryan vergessen.«

»Ich habe ihm eine Nachricht geschickt«, sage ich. »Er denkt, du hast dich nicht gut gefühlt und bist schon nach Hause gegangen.«

Lea holt ihr Handy aus der Tasche und schaltet es an. »Bist du sicher?« Die Sorge in ihrer Stimme gefällt mir gar nicht. Empfindet sie etwas für Ryan?

»Hat er dir nicht geschrieben?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Das wird er wohl auch nicht. Ryan ist kein bisschen romantisch veranlagt.«

»Du auch nicht«, sagt Lea.

»Stimmt, und Liz weiß das auch«, gestehe ich. Liz und ich haben von Anfang an eine Sache klargestellt, das zwischen uns ist vielmehr ein Arrangement als eine richtige Beziehung. Sie hat deswegen auch nie von mir erwartet, dass ich romantisch bin, sie auf Dates ausführe oder mit ihr auf dem Sofa vor dem Fernseher kuschle.

Ich parke das Auto auf dem kleinen unbefestigten Schotterplatz in der Nähe des Sees, an den ich manchmal komme, wenn ich Zeit für mich brauche. In den letzten Tagen, seit Lea wieder in mein Leben getreten ist, habe ich diese Zeit öfters gebraucht. Ich seufze und steige aus dem Auto. Ich helfe Lea beim Aussteigen, dann schnappe ich mir die Decke von der Rücksitzbank und die Schachtel mit den Kuchen und führe Lea den von nur einer Laterne beleuchteten Pfad zum See hinunter.

Hier unten am Ufer des Sees steht noch eine Laterne, sie lässt das Wasser in der Dunkelheit glitzern. Und hier steht noch etwas, das Lea dazu bringt, freudig aufzukeuchen.

»Ian, die ist ja riesig«, ruft sie, als sie die große Trauerweide entdeckt, deren Blätter ein so großes Zelt bilden, dass man darunter bequem liegen kann, ohne entdeckt zu werden.

»Ich habe sie entdeckt, kurz nachdem ich ans College gekommen bin«, sage ich, teile den Blättervorhang, damit Lea hindurchgehen kann und folge ihr dann zum mächtigen Stamm des alten Baums.

»Sie ist wunderschön«, sagt sie begeistert und dreht sich einmal im Kreis. Lea hat die Trauerweide auf unserem Anwesen immer geliebt, als Kinder haben wir oft daruntergelegen und Zukunftspläne geschmiedet oder uns Geschichten ausgedacht.

Ich breite die Decke aus und setze mich, dann beobachte ich Lea, die wie verzaubert unter dem Dach der Weide umherläuft, die deutlich größer als unsere ist. »Also, sagst du mir jetzt, was passiert ist?«, frage ich sie, nachdem sie sich neben mich gesetzt hat.

Ich nehme mein Handy und schalte die Taschenlampe an, damit wir nicht komplett im Dunkeln sitzen und ich ihr Gesicht betrachten kann. Sie versteckt sich nicht wie früher hinter ihren Haaren, aber sie wendet den Blick ab. »Reicht es nicht, zu wissen, dass es nichts mit dir zu tun hat?«, fragt sie und in ihrer Stimme klingt leichte Verzweiflung mit. Sie will es mir wirklich nicht sagen und ich will sie nicht weiter bedrängen. Vorerst.

The Distance between usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt