2. Kapitel

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Kurze Zeit später sitze ich im Auto meiner Eltern und wir fahren in Richtung Stadt. Wie das kommt? Tja, das kann ich auch nicht so wirklich sagen... Auf jeden Fall bin ich nicht freiwilig mitgegangen, das steht fest. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Grund, warum sie mich so sehnlichst dabei haben wollen, der ist, dass ich dabei zusehen soll, wie Gil von vorne und hinten beschenkt wird und ich als bestenfalls nebensächliche Person dadurch angespornt werden würde, in der Schule besser zu werden und zu einem perfekten Musterkind zu mutieren, einem Klon von Gil. Sie halten mich wohl für so beschränkt, dass ich für ein paar Klamotten in der nächsten Saison meine Wut auf sie einfach wegpusten würde und allen Schmerz und Kummer vergessen würde, den sie mir jemals zugefügt haben. Ich kann dazu nur sagen, dass ich nicht perfekt bin, es nie war, obwohl das das Einzige ist, was sie von ihren Kindern wollen, und deswegen haben sie mich verstoßen, schon von dem Moment an, als Gil auf die Welt kam und... wie soll ich das jetzt ausdrücken... sie ihnen mehr Freude bereitet hat als ich. Gil tut einfach immer so perfekt (obwohl sie das ganz sicher nicht ist), dass man das Gleiche auch von mir erwartet. Aber leider sind Mum und Dad zu hirntot, um vor lauter Fehlern meine guten Seiten zu entdecken. Die einzige Zuneigung, die sie mir vielleicht mal ab und zu bekundet haben, waren plötzliche Nettigkeitsanfälle. Aber kommen wir zurück zum Thema. Ich sitze da also im Auto und wir fahren in die Stadt. Die Fahrt kommt mir unendlich lang vor. Dad sitzt am Steuer und unterhält sich mit Mum, sie lachen über irgendwas. Gil telefoniert währenddessen mit Thomas Fous, ihrem Freund. Ihr Geschnatter geht mir mittlerweile auf die Nerven, ich habe wie üblich natürlich niemanden zum Reden. Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe und blicke nach draußen auf den Frühling Berlins. Wir fahren am Redwolff- Park vorbei, das ist der schönste Park, den ich jemals gesehen habe. Leider habe ich so selten Gelegengeit, ihn zu besuchen.

Irgendwann haben wir dann noch ein paar Brücken überquert und sind einmal kurz über die Autobahn gefahren, bis wir jetzt endlich angekommen sind. Wie gesagt, die Fahrt war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Oder zwei. Mum und Dad lachen, als sie aussteigen. Ich glaube, die führen irgendwas im Schilde. Und meine Vermutung bestätigt sich.

"Gil, Alice, wartet doch mal kurz." Er kramt sein Portemonnaie aus der Hosentasche. "Eure Mum und ich gehen in dieses Café da hinten, währenddessen könnt ihr zwei euch gemeinsam amüsieren." Aha. Sie wollen sich als von uns trennen. Dad befördert Geldscheine aus einem der Fächer und reicht Gil 6 Fünfziger. Für mich holt er einen Zwanziger raus und reicht ihn mir immer noch lächelnd. Wie großherzig er nur ist.

"Danke, Daddy!", kreischt Gil, als sie ihre Gabe entgegennimmt. "Kein Problem", antwortet er. "Das ist deine Taschengelderhöhung, das hast du dir selbst zuzuschreiben." Er zwinkert ihr zu, während Mum ihr stolz über den Arm streicht. Sie fallen alle in eine große Gruppenumarmung. Ohne mich, versteht sich. Ach, egal. Mich sollte das alles nicht so aufregen. Bald bin ich achtzehn, und dann ziehe ich aus. Ende der kummervollen Alice. Anfang einer neuen, strahlenden Alice. Ja, auf diese Zukunft warte ich schon lange.

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Ich komme mit einem neuen T-Shirt zurück zum Café und Gil hat mindestens zwanzig Plastiktüten in den Händen. Aber egal, ich sollte mich nicht darüber aufregen. Jetzt gehen wir erstmal Eis essen. Wir haben uns in dem Café mit Mum und Dad verabredet. Als wir eintreten, telefoniert Gil mal wieder mit Thomas Fous, ihrem Herzallerliebst. Ich suche den Raum nach dem Sitzplatz meiner Familie ab. Es ist stickig hier drin. Und voll. Gil findet sie zuerst und gesellt sich zu ihnen. Was echt merkwürdig ist, fällt mir grade auf, ist, dass meine Eltern und Gil sich absichtlich so hingesetzt haben, dass ich mich unmöglich neben sie setzen kann. Nicht dass ich das vorhatte, aber... ich mein ja nur. Mum und Dad sitzen mir gegenüber auf der Doppelbank, wo keiner mehr neben passt und Gil hat sich auf den einzigen Stuhl am Tisch gesetzt, dem Fenster gegenüber. Und ich sitze allein auf der anderen Doppelbank. Ja, das ist interessant.

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt