1. Kapitel

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Die Sonne scheint mir auf den Kopf. Wie immer gehe ich zu Fuß von der Schule nach Hause, im Gegensatz zu Gil, die ein Busticket von unseren Eltern finanziert bekommt. Und mal wieder bringe ich eine 6 mit nach Hause- diesmal in Englisch. Kein Wunder, dass ich schlechte Laune habe. Muss mir mal wieder eine Standpauke anhören. Ich freue mich schon riesig darauf! Es ist doch immer dasselbe. Gil wird dann noch einen netten Kommentar dazu abgeben, sodass meine Gefühlswelt unter den Nullpunkt sinkt. Geht es noch tiefer als an den Grund des Meeres? Ich meine, wenn man schon 16 Jahre lang nur von seinen Eltern wegen irgendwelcher Fehler schlecht gemacht wird, dann sinkt man doch sicher noch tiefer in den Sand ein, oder?

Die Vögel zwitschern, als ich die Haustür öffne. Ich hänge meine Jacke in der Garderobe auf und betrete das Wohnzimmer. Meine Eltern sitzen mit Gil an dem großen, massiven Holztisch über irgendwelchen Rechnungen oder Plänen oder so was.

"Das heißt also, dass wir es ermöglichen konnten, dir in den nächsten Monaten den doppelten Betrag an Taschengeld auszuzahlen.", sagt mein Vater gerade zu Gil. Anscheinend sprechen sie über die Geldangelegenheiten- mal wieder ohne mich- und dem Anschein nach sieht es so aus, als wollten sie irgendwo hinfahren. Mich bemerken sie gar nicht, obwohl ich mich so auffällig wie möglich in den Sessel direkt neben ihnen setze. "Vorausgesetzt wir müssen Alice nichts abgeben", fährt mein Vater fort und sieht dabei kurz zu mir. "Das wird aber wahrscheinlich nicht der Fall sein. Ich gehe mal davon aus, dass deine Englischklausur, die du heute zurückbekommen solltest, so ausgefallen ist wie immer. Möchtest du uns vielleicht etwas sagen, Alice?", wendet er sich an mich, nachdem er die ganze Zeit Gil angesehen hat. Ganz klar, er will meine Note wissen. Bevor ich zu Wort kommen kann, funkt meine Mutter dazwischen. "John, was erwartest du eigentlich von deiner Tochter? Meinst du, ihr Intelligenzquotient hätte sich von jetzt auf gleich einfach gebessert? Sie wird niemals an Gil heranreichen, dafür hat sie nicht genug Grips im Hirn. Unser liebes Mädchen fühlt sich überfordert." Zwar kann man aus ihrer Stimme keinen Sarkasmus oder Zynismus heraushören, aber ihre Worte triefen nur so davon. "Gil, Liebes, du musst dir keine Sorgen um dein Taschengeld machen. Deine Schwester ist gar nicht in der Lage, es dir streitig zu machen."

Nein, ich fühle mich hier gerade ganz und gar nicht unwohl. Und auch nicht irgendwie fehl am Platz oder so...

"Alice?", wiederholt Dad. "Deine Note?" Alle sehen mich erwartungsvoll an. Ich schmunzele. "Oh, welch eine Ehre! Lasst ihr mich nun endlich auch mal sprechen? Soll ich euch jetzt dafür huldigen oder was?" "Alice, nicht in diesem Ton!", ruft meine Mutter aufgebracht. "Alice, wir wollen nicht hören, was du zu sagen hast." Was sagt man denn dazu... Ladies and Gentlemen, darf ich vorstellen: meine Familie. "Du musst nicht zu allem deinen Senf dazugeben, wir wollen deine Note wissen und weiter nichts. Und entschuldige dich gefälligst bei deiner Mutter." Er klingt ungeduldig. Plötzlich habe ich es satt, hier weiter bei ihnen rumzusitzen. "Na schön", antworte ich. "...ich habe eine 6." Gil grinst mich herablassend an. Kein Wunder, sie glaubt Mom und Dad alles, was aus ihrem Mund kommt. Und da sie von dort die nötige Bestätigung bekommt, hält sie sich für die Herrscherin des Universums. Dabei kommt keiner mal auf die Idee, ihren wahren Charakter zu ergründen.

Während Mom anfängt zu schimpfen, lacht Dad leise, schüttelt den Kopf und widmet sich wieder den Papieren, die vor ihm liegen. "Womit habe ich so ein Kind verdient?", beschwert sie sich. "Was habe ich in meinem Leben derartig falsch gemacht? Kannst du dich nicht wenigstens einmal anstrengen, etwas Außergewöhnliches zu erreichen?"

Wie oft hatte ich das schon getan? Ich konnte gar nicht mehr mitzählen. Doch stellt sich so manch einem die Frage, ob das überhaupt erkannt wurde. Ich kann euch die Antwort nennen... nein!

"Wie Gil- in der Schule wird sie wegen ihrer hohen Leistungen enorm geschätzt. Und die Klavier- und Tanzwettbewerbe, die sie schon alle mit dem ersten Platz abgeschlossen hat! Kannst du dir daran nicht einmal ein Vorbild nehmen? Bist du nicht dazu in der Lage, uns zu beeindrucken, oder etwas ansatzweise Gutes hervorzubringen- in irgendeiner Weise?" Vorbild? Ihr Ernst? "Musst du uns denn so enttäuschen? Das Einzige, was du willst, ist doch nur, uns schlecht dastehen zu lassen. Uns in ein schlechtes Licht zu werfen. Du hasst uns und zeigst es uns mit allen Mitteln... schön, Alice! Du hast erreicht, was du wolltest. Wir sind alle zutiefst enttäuscht von dir. Bist du dann fertig? Reicht es dir endlich? Oder haben deine Gehässigkeiten kein Ende?" Sie holt sich ein Taschentuch, um theatralisch zu schniefen. Dad schüttelt einfach nur weiterhin den Kopf und Gil steht mit verschränkten Armen breit grinsend an die Wand gelehnt da.

Ja, meine Familie. Ich muss Mitleid mit ihnen haben. Was für ein schlechtes Schicksal sie doch mit mir getroffen hat! Ich drehe mich seufzend um und marschiere wortlos in mein Zimmer.

"Nicht so eilig, du ungehobeltes Kind!" Okay, jetzt wird sie eindeutig peinlich. "Wo willst du hin? Wir fahren in die Stadt! Und du kommst gefälligst mit!" Mom folgt mir bis zu meiner Tür, die ich abgeschlossen habe. Dann klopft sie heftig. "Mach diese Tür auf! Sie ist nicht dein Eigentum! Du tust, was wir von dir verlangen und keine Widerrede!" Als hätte sie ernsthaft gedacht, ich würde dazu kommen, etwas zu erwidern. "Ich bin noch nicht fertig mit dir. Komm sofort raus, hörst du? Du kriegst kein Geld, aber du hast deine Familie zu begleiten, wenn sie einen Einkaufsbummel macht!"

Ich denke nicht im Traum daran, freiwillig mitzukommen. Mich würden keine 10 Pferde mit in die Stadt schleifen können. Das können die da unten mal getrost vergesen. Ich bleibe, wo ich bin! Und ich bin genau hier.

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt