5. Kapitel

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Irgendwann, es ist so kurz vor elf, beschließe ich, mich mal im Hotel umzusehen. Schließlich ist es für die nächsten Tage mein Zuhause. Mein Zimmer liegt im ersten Stock und da ich vorhin mit dem Bus-Typ/ Motorrad-Typ schon einmal die Einangstreppe benutzt habe, entscheide ich mich jetzt, mit dem Aufzug in die vierte Etage hochzufahren. Ich schließe meine Zimmerür hinter mir und schleiche durch den Flur. Er ist menschenleer und wirkt doch so einladend. Als ich ganz oben ankomme, bemerke ich, dass es auch hier vollkommen leer ist. Doch die Atmosphäre  ist ein wenig anders. Die Holztüren haben eingeschnitzte Verzierungen, die Wände sind nicht einfach nur cremefarben wie unten bei mir, sondern sind mit blassgrünen, verschnörkelten Tapeten bedeckt, was fürs Auge total angenehm wirkt. Als ich um die Ecke wieder zurück zum Aufzug gehe, kommt mir jemand entgegen.

"Na, du namenloses Mädchen?", fragt der grinsende Junge.

"Ich habe einen Namen", sage ich skeptisch und will an ihm vorbeigehen, doch er versperrt mir den Weg.

"Mein Bruder hat mir schon viel von dir erzählt." Was? Wovon redet dieser Typ bitte? Und woher kennt er mich? Und woher soll sein Bruder mich kennen, schließlich bin ich zum ersten mal in meinem Leben in diesem Stadtteil Berlins. Wer ist sein Bruder, dass er mich 'kennt', aber meinen Namen nicht? Und überhaupt - wenn der Bruder des Typen, der grade vor mir steht schon so viel von mir erzählt hat, woher weiß dieser Typie dann, wie ich aussehe? "Erinnerst du dich nicht? Die eine Nacht... Er hat mir erzählt, dass du hier eingecheckt hast. Wolltest du ihn suchen oder was?" Die eine Nacht? Was soll da gewesen sein? Und wen genau will ich seiner Meinung nach gerade suchen? "Weißt du...", redet der Junge unbeirrt weiter. "Wenn du mit meinem Bruder fertig bist, kannst du ja zu mir kommen." Dabei grinst er mich an und senkt dann seinen Blick von meinen Augen zum Rest meines Körpers.

In dem Moment klingelt sein Handy. Als er rangeht, klingt er ganz verstört. Er murmelt kleinlaut irgendwelche Antworten und legt dann auf. "Tut mir leid, ich muss los.", sagt er an mich gewandt. "War mein Vater. Hat mich gefreut dich endlich kennenzulernen." Und schon ist er abgezischt. Leider hat er den Aufzug genommen und ich muss erst einmal warten, bis der wieder oben bei mir ankommt. Ich steige in den Lift und drückte auf den Knopf der dritten Etage, um auch den Rest des Hotels zu erkunden. Über die extrem merkwürdige Situation von grade denke ich nicht mehr nach.

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Mitten in der Nacht wache ich auf. Ich bin zu müde, um aufzustehen und etwas zu tun, aber auch zu wach, um wieder einzuschlafen.

Ich habe, nachdem ich das Hotel erkundet hatte, mein Mittagessen im Hotelrestaurant eingenommen und bin sofort wieder ins Zimmer gegangen um meine Müdigkeit auszuschlafen, die sich bei der unbequemen Zugfahrt nicht unbedingt gelegt hat.

Jetzt habe ich schon den gesamten Nachmittag durchgeschlafen und auch das Abendessen verpasst. Doch das ist nicht das Einzige, das mich quält. Ich bekomme Schuldgefühle, weil ich einfach so abgehauen bin. Vielleicht hätte ich einfach Zuhause bleiben und den ganzen Stress wieder über mich ergehen lassen sollen. Doch nein. Dieses Mal hat es mir gereicht. Meine eigene Familie hat mich gezwungen etwas zu essen, das eine allergische Reaktion zufolge hatte und mich danach einfach links liegen gelassen. Mir ihre Unterstützung untersagt. Was habe ich bei denen noch verloren? Es ist Zeit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich habe zwar keinen Schulabschluss, den hätte ich erst diesen Sommer in der Tasche gehabt, aber vielleicht finde ich trotzdem einen Dummen, der mir irgendwo eine Ausbildung oder eine Aushilfestelle anbietet. Was feststeht ist, dass ich nicht beabsichtige, in nächster Zukunft nach Hause zurückzukehren.

Und dennoch bereitet es mir Kopfschmerzen, dass ich einfach so gegangen bin. Oder eher davongestürmt. Vom vielen Nachdenken wird mir schlecht. Ich habe keine Lust, mir jetzt über meinen Fehler den Kopf zu zerbrechen. Denn im Eifer des Gefechts erschien mir diese Reaktion auf die Demütigungen meiner Familie ziemlich angebracht.

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt