9. Kapitel

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*Ich stand in einem großen schwarzen Raum, um mich herum Stimmen. Mein Blick war verschwommen, ich wusste nicht, wem die Stimmen gehörten. Was ich aber heraushören konnte, war, dass gestritten wurde. Ich drehte mich um mich selbst, versuchte meinen Blick zu schärfen, mich auf eine der Personen zu konzentrieren, die um mich herumstanden. Doch alles was ich erkennen konnte war, dass es sich um zwei Frauen und einen Mann handelte. Sie gestkulierten wild mit den Händen.
Auf einmal merkte ich, wie sich die Situation um mich herum auflöste. Ich sah dabei zu, wie die Personen immer kleiner wurden. Ich schien mich jetzt unmittelbar über ihnen zu befinden.
'Alice, seit wann kannst du denn fliegen?' Plötzlich wusste ich, wem diese weibliche Stimme gehörte. Meiner Schwester. Und da erkannte ich auch die anderen - meine Mutter und mein Vater. Im selben Moment fiel ich auf den harten schwarzen Boden, der anscheinend aus Stein oder Beton war. Ich hatte die Arme schützend vor meinen Körper gehalten, als ich gefallen war, doch von dem Schmerz, der nach diesem Sturz hätte auftreten sollen, war nichts zu spüren. Ich hatte das Gefühl, mich nicht in einer realen Welt zu befinden. Vielleicht war ich ja schon tot.
Plötzlich wurde alles um mich herum weiß, und ich befand mich in einer anderen Situation. Vor einem Gebäude. Vor einer Glastür. Ich dicken Buchstaben prangte an dem Gebäude das Wort: Joyce. Mir kam es bekannt vor, aber ich konnte es nicht zuordnen. Ich versuchte, die Glastür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Nach einer Weile klarten meine Gedanken auf. Ich befand mich vor dem Hotel, vor dem Hotel, in das ich gestern eingecheckt hatte, natürlich. Und da sah ich auch auf einmal Leo vor mir. Aber er war nicht in Reichweite, er befand sich hinter der Glastür. Ich klopfte an die Scheibe. Irgendetwas drängte mich dazu, jetzt sofort in dieses Gebäude gehen zu müssen. Doch auf einmal sah ich mich. Nicht als Spiegelbild. Sondern neben Leo. Hinter der Glasscheibe. In einer anderen Welt. Ich sah, wie Leo seinen Blick von mir abwandte und zu dem anderen Ich schaute. 'Hey!', wollte ich rufen. 'Das ist die falsche Alice! Hier bin ich! Ich bin die richtige!' Doch ich wurde ignoriert. Und musste dabei zusehen, wie mein anderes, verräterisches Ich seine Arme um Leos Nacken schlang und ihn zu küssen begann. Das konnte doch nicht wahr sein. Wieso beobachtete ich mich dabei, wie ich Leo küsste?
Unmengen von Menschen schienen plötzlich hier zu sein und hatten es eilig, in das Hotel zu kommen. Was ihnen auch gelang, nur mir nicht. Ich schloss verzweifelt die Augen und presste meine Hände an meinen Kopf. Als ich wieder aufblickte, beobachtete ich, wie die Glastür in tausend Stücke zerschellte und die Scherben in alle Richtungen auseinandersprangen, gespiegelt von den Farben des Lichts, das aus einer undefinierten Richtung her leuchtete, gebrochen von der Willenskraft eines Einzelnen.
Danach war alles weg. Ich befand mich in einem spärlich beleuchteten Raum und das Einzige, was mir Gesellschaft leistete, war eine zerbrochene Glasscherbe auf dem Boden.*

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt