'Ich leide nicht unter einem Nervenzusammenbruch. Ich leide nicht unter Atemnot. Ich leide nicht unter einem Nervenzusammenbruch. Ich leide nicht unter Atemnot.', ich sage mir die Worte mehrmals wie ein Mantra vor.
Währenddessen versuche ich, tiiief einzuaaatmen. Und wieder aus. Und tiief einaaatmen. Und wieder aus. Und wieder ein und wieder aus.
"Was genau soll das werden?", werde ich gefragt. "Platzangst.", hechele ich. "Das heißt, du bist noch nie in einem Aufzug gefahren?" "Doch natürlich - das tritt nur erst nach mindestens einer halben Stunde auf." Wieder Stille. Dann: "Kann ich irgendwas tun?" Ich versuche, meine Panik zu überbrücken, um ein paar verständliche Worte herauszubekommen. "Dabei kann ich mir nur selbst helfen. Ich muss mich beruhigen. Oder an irgendetwas denken, das mich beruhigt." "Soll ich dir eine Geschichte erzählen?" Ich umklammere meine Beine fester und nicke. Als mir einfällt, dass er mich nicht sehen kann, antworte ich leise mit einem "Okay".
"Okay. Also, es war ein ziemlich kalter Herbsttag und ich war 6 oder so, glaube ich. Ich war mit meinem Dad auf irgendeinem Spielplatz in der Nähe des Kindergartens, aus dem meine Mom gerade Vincent abholen ging. Ich turnte auf einem Klettergerüst herum, als es gerade heftig zu regnen begann. Ich glaube, es hagelte sogar. Jedenfalls konnte ich nichts mehr erkennen, also lief ich zu der Bank auf der mein Vater bis gerade noch gesessen hatte, doch er war weg. Ich fing an zu heulen und suchte ihn verzweifelt, doch der Regen war so heftig, dass ich nur grob die Hand vor Augen erkennen konnte. Irgendwann wurde mir klar, dass ich ihn nicht mehr finden würde."
Leos Stimme hat so einen Ausdruck angenommen, den ich bis jetzt noch nicht von ihm kenne, etwas sehnsüchtiges liegt darin. Kein Macho-Getue mehr, für den Augenblick zumindest.
"Also lief ich zu meiner Großmutter mütterlicherseits, von der ich wusste, dass sie in der Nähe wohnte. Später hat sich dann herausgestellt, dass mein Dad während des Regens ebenfalls versucht hat, mich zu suchen, damit wir uns zusammen irgendwo unterstellen konnten. Wir haben die ganze Zeit aneinander vorbei gesucht. Aber schließlich hat er mich doch gefunden, später am Abend. Das war, bevor er so geworden ist, wie er ist." Er seufzt.
"Und was soll daran jetzt beruhigend sein?", frage ich. "Eigentlich nichts, aber es hat dich abgelenkt, oder?" Ich lege meine Hand an meine Brust und fühle mein Herz schlagen. Es ist langsamer als vorher. Er hat recht.
Plötzlich lacht er leise. "Ich weiß gar nicht warum ich dir das erzählt habe. So ein Schwachsinn. Als würde es jetzt noch eine Rolle spielen. Es wird niemals mehr so sein, wie es war."
Oh mein Gott, ich habe noch niemals gehört, wie ein Junge so traurig klingt. Es ist herzzerreißend.
"Keine Sorge, ich habe keine Freunde. Ich kann es also niemandem weitererzählen." "Dann bist du aber ganz schön arm dran.", sagt er und irgendwie freut es mich, das Lächeln in seiner Stimme zu hören. "Das sind wir doch beide, oder nicht?", antworte ich. "Was ist passiert? Es muss doch Gründe dafür gegeben haben, dass dein Vater jetzt... ähm... so anders ist als damals." "Die gibt es auch. Klar gibt es die. Wir kennen sie auch alle. Also meine Mom, Vincent, meine Großeltern und ich." "Ja.. und??" "Willst du das echt alles wissen? Das langweilt dich doch sicher. Du hast ja offensichtlich schon genug Probleme." Ich muss lachen. "Sehe ich so schlimm aus, dass man mir das direkt ansieht?" "Nein. du siehst aus wie das Gegenteil von schlimm." Ich höre, wie er sich über den Nacken reibt. "Also gut... mein Dad hatte vor, na ja vor einigen Jahren einen Job. Seinen Traumjob halt. Okay, jetzt darfst du aber nicht lachen." "Werde ich nicht.", verspreche ich. "Er war Opernsänger." Stille. "Oh. Das ist doch cool.", sage ich und versuche, mir das Lachen zu vetkneifen. "Ich merke doch, dass du lachst!" Oh oh... Pötzlich spüre ich eine Hand an meinen Lippen, die die hochgezogenen Mundwinkel nachfährst. "Ich sage doch, du lachst." "Tu ich gar nicht.", verteidige ich mich lachend und schlage sein Hand weg. Jetzt muss er auch lachen. "Ich finde das eigentlich gar nicht witzig.", sagt Leo, nachdem er wieder Luft bekommt. "Ich doch auch nicht!", bekräftige ich. "Das war nur der Überraschungsmoment. Ehrlich." Ich presse meine Lippen fest zusammen, um nicht weiterzulachen. "Was ist denn dann passiert?", hake ich weiter nach. Leo atmet tief durch und erzählt weiter.
"Mein Dad war eigentlch sogar erfolgreich. Dass er schließlich seine Arbeit verloren hat, war nur ein dummer Zufall. Er hatte sich am Abend vor seinem letzten offiziellen Auftritt eine Erkältung zugezogen und hatte so gut wie keine Stimme mehr. Da er aber kein Stück absagen wollte und außerdem wichtige Gäste anwesend waren, entschloss er sich, dennoch zu singen. Was sich als ein fataler Fehler herausstellte, denn er bekam bei der Aufführung keinen einzigen richtigen Ton zustande. Die Leute haben ihn für untalentiert erklärt und rausgeschmissen. Seitdem hat ihn nie mehr jemand irgendwo angenommen. Es stand in allen Zeitungen." Er legt eine Pause ein. Wahrscheinlich denkt er nach oder erinnert sich zurück. Dann spricht er weiter. "Er hat angefangen übermäßig Alkohol zu trinken und ist seither so gut wie nie nüchtern. Deswegen ist er auch so brutal zu meiner Mom und seinen Kindern." Den letzten Satz hat er nur noch ganz leise herausgebracht. "Nichts mehr erinnert an den Mann, der er früher war - voller Leidenschaft, vor Glück strahlend. Er hat uns alle geliebt. Es ist fast noch schlimmer, als wenn er gestorben wäre. Seine alte Persönlichkeit ist verschwunden und den Unterschied zu seiner neuen jeden Tag vor Augen zu haben... so was ist schwer. Man kann sogar fast meinen, dass er selbst auch ein bisschen schuld daran ist. Er hat sich selbst dazu entschlossen nur noch in einer Traumwelt zu leben und die Realität zu vergessen. Nicht mal um seiner Familie willen, hört er damit auf. Als hätte er uns vergessen. Oder wäre mit voller Absicht von uns gegangen."
Ich muss mich schon fast zu Leo herüberlehnen, so leise spricht er nur noch. Seine Stimme klingt zwar neutral, aber seine Worte triefen nur so vor Kummer. Seine Stimme klingt rau und kalt. Moment mal... kalt... mir fällt gerade auf, dass es eisbrockensplitterkalt hier drin ist. Dass die Klimaanlage bei den Temperaturen draußen ausfällt, ist wohl doch nicht so nebensächlich, wie so manch einer vielleicht glaubt.
Leo seufzt laut und fährt sich mit der Hand durchs Gesicht. "Tja.. also das war meine tragische Geschiche. Jetzt hast du sie gehört und kannst sie am besten gleich wieder vergessen." Ich merke, dass es ihm peinlich ist, dass er mir davon erzählt hat. Aber ich kann diese Geschichte nicht vergessen. Ich weiß nicht was, aber irgendetwas in mir würde gerade alles tun, um diesem Jungen zu helfen. Viellecht nicht gerade alles, aber sehr viel auf jeden Fall.
Ich überlege, was ich sagen soll, aber dann lache ich leise auf, weil meine Idee so absurd ist, während sich Gänsehaut auf meinen ganzen Körper ausbreitet. "Wieso lachst du?", werde ich gefragt. "Ich glaube, es käme ein bisschen komisch, wenn ich jetzt sagen würde: 'Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin ja jetzt da.' Oder?" Ich lache wieder, während er schweigt und anscheinend über meine Worte nachdenkt. Ich glaube, ich hätte lieber nichts sagen sollen.
Nach einer Weile bekomme ich eine Antwort. "Ich glaube, das käme wirklich komisch, aber es wäre auf jeden Fall sehr nett." Damit habe ich nicht gerechnet, und so weiß ich nicht, was ich sagen soll. Soll ich meine Worte jetzt noch einmal aussprechen - diesmal ernst gemeint? Einfach das Thema wechseln? Oder doch lieber nichts sagen?
Ich entscheide mich für das letztere, doch dann fällt mir ein geschickter Themawechsel ein. "Es ist ganz schön kalt hier drin, findest du nicht auch?" Er geht darauf ein. "Das ist gleich wieder vorbei. Die arbeiten wohl grade am Stromkasten. Gleich wird es für ein paar Minuten im gesamten Hotel total warm und dann sollten sie eigentlich alles wieder im Griff haben. Aber eigentlich sollten wir inzwischen schon längst draußen sein, vermute ich mal. Wie geht's deiner Panikattacke?", bekomme ich als Antwort. "Willst du wissen, wie es meiner Panikattacke geht oder wie es mir geht?", lache ich. "Wie es dir geht natürlich." Schon wieder kann ich am Klang seiner Worte hören, dass er lächelt. "Ich denke, es ist besser geworden. Nein, ich bin mir sogar ziemlich sicher."
In diesem Moment spüre ich plötzlich, wie der Aufzug sich bewegt. Leo und ich springen gleichzeitg auf. Der Lift setzt sich wieder in Gang und wir werden nach oben gezogen. Das Licht flackert für einen kurzen Moment und erleuchtet dann wieder mit enormer Helligkeit den Raum. ich reibe mir über die Augen, bevor ich blinzele und zu Leo hinübersehe, der mich ebenfalls ansieht. Ich hatte für die Zeit, die wir hier im Dunkeln festsaßen, ganz vergessen, wie gut er eigentlich aussieht. Ich wende mich ab. Auf einmal geht ein weiteres Ruckeln durch den Aufzug und ich lande ungeschickt in Leos Armen.
Ich merke, dass er mich immer noch festhält, obwohl der peinliche Moment eigentlich schon vorüber ist, und mich immer noch so ansieht, mit diesem typischen Leo-Blick. Eine Augenbraue hochgezogen, die andere mehr zusammengezogen.
Meine Arme liegen auf seiner Brust und seine umschließen meinen Rücken. Mit jeder Sekunde, die vergeht, spüre ich seinen Atem deutlicher in meinem Gesicht.
Kling!, ertönt es plötzlich und die Türen gehen auf. Davor steht eine Gruppe Menschen, die uns anstarrt.
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Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)
Teen FictionAlice ist 16 und lebt in Berlin. Ihre Eltern leben noch, sie hat eine jüngere Schwester, einen Freund und geht auf eine ganz normale Schule. Man könnte fast meinen, ihr Leben wäre perfekt. Doch sie sieht das völlig anders. Ihre Eltern hassen sie, ih...