Da ich keinen besseren Plan habe, gehe ich zum Redwolff- Park. Ich setze mich auf eine Bank und ziehe meine Jacke fester zu, weil der Wind so kalt ist. Anscheinend ist noch was vom Winter übrig geblieben. Der Frühling lässt auf sich warten. Nach einer Weile wird mir langweilig. Und mein Magen verlangt nach Essen. Doch ich bleibe weiter sitzen und beobachte die Spaziergänger mit ihren Hunden, die Eichhörnchen auf den Bäumen und die Rentner mit ihren Rolatoren. Irgendwann setzt sich ganz plötzlich so ein alter Mann neben mich.
"Na?", fragt er und wackelt mit den Augenbrauen. "Heute keine Schule?" Ich antworte gar nicht erst, weil mir dieser Opa komisch vorkommt, und will gehen, doch er zieht mich am Ärmel meiner Jacke wieder zurück auf die Bank. "Na?", fragt er wieder. "Willst du nicht auf ein Pläuschchen hier bei mir sitzen?" Ich will sagen, dass ich keine Zeit habe, als er schon weiterredet. "Ich erzähle dir von meiner Frau. Sie kommt aus Schottland. Ja! Ein schönes Land." Er lacht und entblößt dabei eine Reihe schiefe, gelbe Zähne. Wie dieser alte Mann in Oliver Twist. Man könnte fast meinen, der hier würde auch auf der Straße leben. Oder irgendwelche Kinder zum Stehlen anstiften. Ich sollte vielleicht schleunigst hier wegkommen. "Sie ist sogar nur für mich hier hergezogen. Als Beweis ihrer Liebe sozusagen." Er wedelt bekräftigend mit seinem Gehstock. Dann legt er seinen Arm um mich. "Nachts beobachten wir immer gemeinsam die Sterne. Sie sagt dann nie was, und diese Stille ist schön. Sie sagt schons seit sechs Jahren nichts mehr." Sein Blick schweift gedankenverloren im Park umher, während seine weißen Resthaare im Wind flattern und ich versuche, mich aus seinem Arm hervorzuwinden. Er will doch nicht etwa andeuten, dass seine Frau tot ist und er jede Nacht auf dem Friedhof verbringt!? Vielleicht hätte ich doch besser Zuhause bleiben sollen. "Ich glaube, ich muss jetzt schnell los", sage ich, während ich aufstehe und sicherheitshalber zwei große Schritte zurück gehe. "Hab noch einen wichtigen Termin." Mit diesen Worten verschwinde ich schnell. So schnell, dass er mir ganz sicher nicht folgen kann. Als ich einmal zurückblicke, sehe ich, wie der Opa mir mit großen Augen nachsieht. Okay, das ist jetzt peinlich. Schnell gehe ich weiter.
Irgendwann komme ich an einer Imbissbude vorbei. Es riecht so lecker nach Bratwürstchen, dass ich mir unbedingt auch eins holen muss. Es sind nicht viele Kunden da, schließlich ist es ja noch Morgen und die Leute schlafen entweder noch oder sind auf der Arbeit und in der Schule. Ich bestelle mir eine Currywurst mit Pommes und laufe damit weiter durch die Straßen. Ich will einfach nur so weit von Zuhause weg wie möglich.
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Nach einer Weile komme ich am Bahnhof an. Meine leere Pommesschale werfe ich weg, dann steige ich in den nächsten Zug, der mich so weit wie möglich von meiner Familie wegbringen soll. Ich weiß noch nicht, wo ich aussteigen will. Wie gesagt, es wird sich schon alles ergeben. Ich starre eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, als plötzlich mein Handy klingelt.
"Hey, Babe. Wieso warst du heute nicht im der Schule?" Er klingt so gelassen. Als hätte ich ihn nicht letzten Freitag mit dieser Enelly vor dem Jungenklo erwischt. "Was willst du, Scott?", antworte ich, höre ihm aber schon nicht mehr richtig zu. Es ist zwar nicht so, dass ich extreme Gefühle für ihn gehabt hätte, aber seine Freundin betrügen?? So was macht man ganz einfach nicht. Deswegen habe ich ihn abgeschrieben. Und dann hat er noch das ganze Wochenende kein einziges Mal angerufen, um sich zu entschuldigen oder so. Als wär es das normalste der Welt. Nach dem Motto: War doch klar, dass das irgendwann passiert. "Na ja...", fährt er fort. "Du warst heute nicht in der Schule. Deine Schwester macht sich Sorgen." Ach ja? Und er macht sich keine Sorgen? Wahrscheinlich hat er schon vergessen, wer ich bin. "Du hast mit meiner Schwester geredet?" "Ja, sie ist in der Pause auf mich zugekommen. Hat gefragt ob ich wüsste, wo du bist. Da hab ich gesagt, ich ruf dich mal an, weil sie dich nicht erreichen konnte. Und hier bin ich." In diesem Moment sehe die 6 verpassten Anrufe und 18 Kurznachrichten. Alles von Gil, Mom oder Dad. "Wunderschöne Geschichte, Scott. Auf wiederhörn.", sage ich, weil mich sein Gerede nervt. "Aber... willst du mir denn gar nicht sagen, wo du steckst?" "Im Zug nach Dubai. Das liegt in Asien, falls du mich suchen willst." Ich lege auf. Und da sich die Müdigkeit bei mir bemerkbar macht, schlafe ich ein. Aber nicht, bevor ich überprüft habe, wie lange der Zug noch bis zur Endstation fährt. Ich komme zwar nicht raus aus Berlin. Aber zumindest bin ich zwei Stunden Zugfahrt von Zuhause entfernt. Das genügt erstmal für den allerersten Tag meiner... meiner Flucht? Oder Befreiung oder so?
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Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)
Fiksi RemajaAlice ist 16 und lebt in Berlin. Ihre Eltern leben noch, sie hat eine jüngere Schwester, einen Freund und geht auf eine ganz normale Schule. Man könnte fast meinen, ihr Leben wäre perfekt. Doch sie sieht das völlig anders. Ihre Eltern hassen sie, ih...