4. Kapitel

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Ich habe zwar noch nicht so viel geschrieben, lege aber trotzdem den Stift weg und reibe mir übers Handgelenk, das mir jetzt schon wehtut. Das ist eigentlich merkwürdig, aber irgendwas scheint im Allgemeinen mit meinem Arm nicht zu stimmen und wie ich entdeckt habe, mit meinem Bein auch nicht, denn da trage ich einen riesigen Gips. Außerdem klebt oberhalb meiner Brust ein großes Pflaster, das aus Verbandsstoff besteht. An meinen Armen ist zwar nichts Ungewöhnliches, aber trotzdem tun beide total weh, weshalb mir das Schreiben auch zu anstrengend wurde. Ich lasse nochmal Revue passieren, was ich gerade aufgeschrieben habe, als plötzlich jemand mein Krankenhauszimmer betritt.

Meine Mom.

Ich starre sie fassungslos an und frage mich, was um alles in der Welt sie hier in Hamburg macht, da sie sich doch den letzten Dreck für mich interessiert.

"Wieso bist du hier, Mom?", frage ich sie aufgewühlt und in dem Moment kommt auch Dad ins Zimmer spaziert. Als er mich sieht, blickt er zu Mom und schließt sie dann in die Arme.

"Ich hab dir doch gesagt, sie wird durchkommen.", höre ich ihn flüstern. Er sieht erleichtert aus.

Was wird hier eigentlch gespielt?!

Meine Eltern kommen auf mich zu und sehen mich glücklich lächelnd an, was mich nur noch mehr verwirrt. Ich betrachte sie eingehender und bemerke, dass sie dunkle Ringe unter den Augen haben und außerdem sehr müde und nicht besonders fit aussehen. Man könnte fast meinen, ihnen hinge nur noch die Haut an den Knochen.

"Endlich, meine Süße.", flüstert Mom. "Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Ist alles okay mit dir? Geht es dir gut? Wir haben von deinem Unfall erfahren und sind gekommen, so schnell wir konnten." Meine Mom schluckt schwer und ich sehe Tränen in ihren Augen glitzern. Plötzlich fasst sie nach Dads Arm und sagt hektisch: "Los doch, hol Gil, sie muss schließlich auch erfahren, dass Alice jetzt wach ist. Sonst heult sie sich noch die Augen aus dem Kopf." Gil und wegen mir heulen? Dass ich nicht lache. Ich meine, ich hatte einen Autounfall und wäre fast gestorben, aber wieso sollte das sie in irgendeiner Weise berühren? Dad lächelt mich ein letztes Mal an, bevor er schnell rausläuft. "Alice", sagt meine Mom an mich gewandt wieder im Flüsterton. "Ich bin ja so froh, dass nichts schlimmeres passiert ist." Sie streicht mir zärtlich über die Wange, woraufhin ich ihre Hand wegschlage. Mom zuckt erschrocken zurück und sieht mich mit entsetztem Blick an. "Alles okay?", fragt sie mitfühlend. "Wahrscheinlich musst du dich noch ein wenig ausruhen." Jetzt werde ich langsam wütend. Hat denn diese Frau keine Augen im Kopf?! Ich habe ein gebrochenes Bein und sie fragt, ob es mir gut geht! Und dann führt sie sich noch so auf, als wäre sie eine herzensgute, einfühlsame Mutter. Was läuft bei der eigentlich falsch? Kann mich mal irgendwer hier aufklären?

"Mom, was soll das? Was ist hier los? Und überhaupt- was habe ich eigentlich für Verletzungen? Würde hier mal einer so freundlich sein und mich wie einen normalen, zivilisierten Menschen behandeln und nicht wie ein Schwein, damit ich auch mal etwas ERFAHRE??", brülle ich fast, doch als ich den erschrockenen Blick meiner Mutter sehe und die Träne, die daraufhin ihre Wange runterläuft, bereue ich, dass sich sie so angeschnauzt und ihre Hand weggeschlagen habe. Sie tut mir jetzt sogar richtig leid. Wer weiß, vielleicht hat hier tatsächlich eine Wandlung stattgefunden und es stehen plötzlich ganz andere Menschen vor mir. Eine Mutter, die sich Sorgen um ihre Tochter macht. Eine Mutter, die total aufgelöst ist, weil ihre Tochter beinahe ums Leben gekommen wäre. Eine Mutter, die für ihr Kind da sein möchte, die es lieb hat und es nicht verlieren will. Und vielleicht sogar eine Schwester und ein Vater, die unendlich erleichtert sind, weil es dem Familienmitglied wieder besser geht. Ist so etwas überhaupt möglich? Ich bezweifle es stark, und dennoch. Was sonst erklärt den jetzigen Zustand meiner Mutter? Sie sieht ausgehungert aus, erschöpft und als hätte sie starke Kopfschmerzen, weil sie sich über irgendwas zu viele Gedanken gemacht hat. Ich erkenne sie gar nicht wieder. Genau genommen habe ich sie noch nie zuvor so gesehen. Vielleicht hat tatsächlich irgndwo in ihrem Inneren eine Wandlung stattgefunden?

Während ich sie immer noch ansehe, kommt Dad gerade wieder ins Zimmer und Gil hinter ihm. Was ich sehe, lässt meinen Atem stocken. Gil hat ein total verweintes Gesicht und ihre Augen sind knallrot. Als sie mich sieht, schlägt sie sich die Hand vor den Mund und schluchzt laut los, was meine Vermutung bestätigt, dass ich im Moment ziemlich schrecklich aussehen muss. Außerdem weiß ich genau, wie Gil sich immer zurechtmacht. Und wie ihr Outfit jetzt aussieht kann nur heißen, dass sie keine Zeit hatte, sich fertig zu machen oder irgendwie sonst davon abgehalten wurde. Ihre Haare sind zu einem losen Pferdeschwanz gebunden, sie trägt ein dunkles T-Shirt und darüber eine uralte Stoffjacke, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr getragen hat, und eine Jeans, die ihr eigentlich zu breit ist, obwohl ihre Sachen normalerweise immer hauteng sind und ihre Figur betonen.

Ich sehe sie sorgenvoll an, weil ich mir gerade wirklich Sorgen um sie mache. Mom und Dad wechseln Blicke und sagen schließlich, dass sie uns mal allein lassen wollen. Als die Tür hinter ihnen zu fällt, schluchzt Gil noch lauter los und kommt mit langsamen und zögerlichen Schritten auf mich zu. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und so herrscht eine schmerzvolle Stille zwischen uns, die nur ab und an von ihren Schluchzern unterbrochen wird. Als sie bei meinem Bett ankommt, bricht ein Redeschwall los.

"Es tut mir so schrecklich leid, es ist alles meine Schuld gewesen. Das wäre alles nicht passiert, wenn ich dich davon abgehalten hätte zu gehen. Aber in dem Moment war ich einfach nur froh, dass du endlich weg bist. Ich bin so eine blöde Kuh! Ich bin an allem schuld. Es wäre nie zu diesem Unfall gekommen, wenn ich dich aufgehalten hätte. Es tut mir leid, wirklich. Alles. Auch alles Schlimme, was ich jemals zu dir gesagt oder dir angetan habe, es war nicht so gemeint, ehrlich nicht. Ich wollte dir nicht wehtun. Wäre ich netter gewesen, hättest du gar nicht erst gehen wollen, deswegen bin ich schuld und ich weiß es." Sie holt einmal tief Luft und schluchzt wieder los, die Hände vors Gesicht geschlagen.

Gil tut mir gerade so furchtbar leid, dass ich schon fast Schmerzen in der Herzgegend bekomme. Sie soll nicht weinen. Ich will sie lachen sehen und zwar nicht hämisch lachen, sondern glücklich lachen. Doch sie sieht am Boden zerstört aus. Ich kann mir nur schwer vorstellen, was sie durchgemacht haben muss.

"Es ist alles meine Schuld.", schluchzt sie noch einmal. Und bevor sie weiterreden kann, ziehe ich sie an mich, um sie zu trösten. "Hey... nein. Das ist doch nicht deine Schuld. Ich bin selbst schuld, dass ich abgehauen bin. Außerdem war es gar nicht so schlimm. Es war eher lustig.", sage ich und versuche, sie aufzumuntern. "Der Unfall war lustig?", fragt sie etwas lauter. "Was soll denn daran lustig gewesen sein? Ich hab gehört, du und dieser andere Typ... ihr seid mit eurem Auto im Fluss gelandet, nachdem ihr euch überschlagen habt. Stimmt das?" "Ja", flüstere ich leise zurück und erinnere mich an diesen Schockmoment. Ich schlucke, und versuche die Erinnerung so schnell wie möglich wieder zu verdrängen. "Aber ich habs überlebt. Ich bin doch jetzt hier. Und wohlauf, wie man sieht." Ich drücke sie fest an mich und lächele sie an. Sie lächelt ein klein wenig zurück, bevor sich ihr Gesicht erneut verzerrt und sie wieder in Tränen ausbricht. "Es war so schrecklich.", berichtet sie. "Es war ja noch so früh am Morgen und ich hab noch geschlafen, da kamen Mom und Dad in mein Zimmer und haben mich praktisch aus dem Bett gerissen und gesagt, die Polizei hätte angerufen, weil du in einen Autounfall verwickelt worden bist. Wir müssen sofort nach Hamburg fahren, haben sie gesagt. Und dann hab ich mich umgezogen und wir sind schnell los, und die ganze Fahrt über hab ich so geheult, weil ich so schreckliche Angst hatte, dass wir zu spät kommen würden und ich dich verliere." Danach ist sie erstmal still. Bei ihrer Erzählung habe selbst ich Tränen in den Augen bekommen. Gil schlingt die Arme noch fester um mich. Ich stelle mit vor, wie ich gehandelt hätte, wenn ich erfahren hätte, dass Gil etwas zugestoßen war. Und so sehr ich meine Familie auch hasse oder gehasst habe, weiß ich genau jetzt, dass ich ebenfalls total ängstlich und aufgelöst gewesen wäre. Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen.

Ich lasse diesen Moment auf mich einwirken, die erste Umarmung, die ich mit meiner Schwetser teile, der erste Moment, in dem wir uns wirklich vertragen. Ich streiche ihr über den Rücken und wir bleiben noch ein paar Minuten so liegen. Als Mom und Dad schließlich durch die Tür kommen und mich und Gil da liegen sehen und daraufhin lächeln, muss ich einfach auch lächeln. Denn ich weiß, dass ich meine Familie liebe.

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt