Kapitel 3.1

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Wir kommen erst am frühen Morgen bei mir Zuhause an, weil wir uns verfahren haben. Dazu muss ich sagen, dass ich nicht Schuld daran bin. Ich habe ihm ja den richtigen Weg beschrieben, er ist nur den falschen gefahren. Na ja, auf jeden Fall sind wir jetzt da. Ich steige vom Motorrad ab und reiche ihm den Helm. Er nimmt seinen Helm auch vom Kopf.

"Danke, dass du mich gefahren hast. Ist zwar nicht nötig gewesen, ich wäre auch allein klargekommen, aber... tja, du hast es getan." "Ich glaube nicht, dass du ohne mich klargekommen wärst. Du hättest wahrscheinlich den falschen Bus genommen oder wärst an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Oder in das falsche Haus eingebrochen." "Haha, ja klar." "Wer weiß...", verteidigt er sich. "Du hast schließlich auch eine Allergie auf Erdbeeren. Was wohl noch alles kommt?" "Das wirst du nie erfahren. Denn ich gehe jetzt." Er ist gemein. "Hier wohnst du also. Da ich das ja jetzt weiß, komme ich vielleicht öfter vorbei." Dabei streicht er sich die Haare aus dem Gesicht, was wohl sexy wirken soll. Und ehrlich gesagt tut es das auch. "Das kannst du dir sparen. Ich werde nicht da sein. Ich haue nämlich ab. Und zwar genau jetzt." Mit diesen Worten gehe ich zur Haustür, schließe auf und schmettere die Tür wieder zu, nachdem ich drin bin. Als ich aus dem Flurfenster schaue, sehe ich, dass er mich immer noch beobachtet. Ich grinse und winke kurz. Er sieht mich verwirrt an, schüttelt dann seine Haare und setzt den Helm wieder auf. Ich sehe ihm noch hinterher, als er die Straße runterfährt und um die Ecke biegt. Dann ist er verschwunden. Ich drehe mich um und steuere auf die Küche zu, weil ich Hunger habe. Ich rieche Waffeln. Nicht schon wieder! Gil macht jeden zweiten Dienstag morgens, vor der Schule Waffeln. Das nervt mich manchmal echt, weil ihre Waffeln mit irgendeinem Soja- Zeug gebacken werden und was auch immer sie da noch alles rein tut. Und dieser Geruch verpestet dann immer das ganze Haus. Aber schön für sie, dass sie mich zumindest nicht vermisst hat. Ich gehe an Gil vorbei, die nur selig lächelt, und steuere die Obstschale auf der Fensterbank an. Ich nehme mir daraus einen Apfel und beiße rein. Dann lehne ich mich an die Fensterbank und stütze die Ellbogen ab. Klar, der Plan abzuhauen hat sich schon lange in meinem Kopf gebildet und ich habe auch wirklich vor, ihn durchzuziehen. Nur möchte ich vorher noch meine Schwester, den Quell allen Übels, ansehen. Sie ist schlank und ungefähr zehn Zentimeter kleiner als ich. Dabei hat sie genauso haselnussbraune Haare und die gleichen grüngelben Augen wie ich. Das haben wir beide von unserer Großmutter geerbt. Ihre Haare sind nur länger als meine, meine reichen gerade mal bis zu den Schulterblättern und ihre gehen ihr bis zur Taille. Sie steht gemütlich am Tisch, die Stille wird allein von dem Mixer unterbrochen. Tja, jetzt werde ich sie wohl verlassen, für eine Weile von ihr gehen. Dabei habe ich mir doch immer erhofft, ein Band der Schwesternliebe mit ihr zu knüpfen... Habe ich das gerade wirklich gedacht? Meine Fantasie ist wohl manchmal nicht aufzuhalten. Ich meine, es wäre ja schon schön, eine nette, herzliche Schwester zu haben oder überhaupt jemanden, der mich liebt. Aber nicht sie. Bitte. Nicht.

Ich gehe wieder raus und verschwinde in meinem Zimmer. Dort krame ich einen alten Adidas- Rucksack aus meinem Schrank und stopfe irgendwelche Klamotten, eine große Flasche Mineralwasser, Handy, Ladekabel und so weiter rein. Dann fahre ich mir durch die Haare und laufe wieder nach unten in den Flur. Ich bleibe vor der Kommode stehen und öffne die Geldkasse. Ich hasse meine Familie zwar, aber ich nehme trotzdem nicht alles raus. Nur 600€. Mit mehr kann ich nichts anfangen, schließlich bin ich nur vorübergehend weg. Ein paar Tage oder so. Dann rufe ich eine höfliche Verabschiedung ins Haus.

"Ich bin weg! Und ich komme nicht wieder! Schönes Leben noch!", brülle ich. Gil kommt aus der Küche. Sie sieht mich belustigt an. "Du hast doch nicht vor abzuhauen, oder?" Nachdem sie die offene Familienkasse bemerkt hat, wird ihr Blick misstrauisch. Aber ich bin schon aus der Tür. Als ich die Straße runterlaufe, den gleichen Weg, den der Typ gerade genommen hat, ruft mir Gil hinterher.

"Das traust du dich sowieso nicht! Du bist eh in ner Viertelsunde wieder da!" Ja klar, sie wird es ja sehen. Ich bin frühestens nächste Woche wieder da, vielleicht bleibe ich auch die ganzen Ferien weg, die fangen ja nächste Woche an. Vorausgesetzt ich finde die richtige Bleibe. Sie wird sich noch wundern. Wenn ich es mir recht überlege, komme ich vielleicht auch niemals zurück. Mal sehen, wie sich alles ergibt.

Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt