Als ich im Bad bin, schlüpfe ich aus meinen Klamotten und steige unter die Dusche. Ich lasse das kühle Wasser auf meinen Körper herabfließen und entspanne mich ein wenig.
Doch kurz danach bekomme ich wieder eine meiner Panikattacken. War das, was ich getan habe, falsch? Hätte ich nicht weglaufen sollen? Aber eigentlich hat mich nichts dort gehalten. Ich meine - Zuhause hatte ich nicht wirklich eine Vertrauensperson und hier auch nicht, also was macht es für einen Unterschied? Dennoch zweifle ich daran, dass es einen Sinn oder Zweck hatte. Ich hätte genauso gut dort bleiben können, und den ganzen Stress weiter über mich ergehen lassen und so tun können, als würde es mir nichts ausmachen. Aber ich konnte nicht mehr.
Es muss wohl die richtige Entscheidung gewesen sein, denn so fühlte es sich an. Ich weiß, es klingt feige. Als würde ich vor all meinen Problemen weglaufen. Aber stellt euch mal vor, ihr hättet ein echt großes Problem. Ein Problem, das ihr nicht jetzt und auch nicht in Zukunft bewältigen könntet. Ihr würdet euch alleine fühlen - ständig. Ohne eine Vertrauensperson. Ohne Liebe. Wenn ihr euch fast jeden Tag in eurem Zimmer einsperren würdet und heulend auf dem Bett zusammenbrecht. Wenn eure Eltern ans Zimmer klopfen und euch wütend zum Mittagessen rufen, ihr aber nie aufmacht, mit der Begründung Hausaufgaben zu machen, weil ihr einfach keinen Appetit habt und euer Problem nicht den Leuten unter die Nase reiben wollt, die euch das Leben zur Hölle machen. Wenn ihr nicht mehr leben würdet, sondern nur noch überleben.
Wenn euch das Herz jeden Tag aufs neue zerrissen wird und ihr einfach nicht mehr könnt. Wenn ihr nicht mehr weiterwisst.
Ich bemerke, dass ich an der Duschwand hinabgesunken bin und lehne meinen Kopf an.
Vielleicht war es nicht die richtige Entscheidung, aber es war der einzige Ausweg. Ich hab echt schonmal daran gedacht, mich auf eine Brücke zu stellen, übers Geländer zu klettern und einfach loszulassen. Einfach mit allem abzuschließen. Die Welt braucht mich nicht. Niemand braucht mich. Ich bin keine Bereicherung oder so was und vermissen würde mich schon gar keiner.
Aber als ich dann einmal auf einer Brücke stand, kam plötzlich ein anderes, neues Gefühl in mir auf, dass ich vorher nicht kannte und das die Sehnsucht nach einem Ausweg überschattete. Angst. Die Angst hielt mich davon ab, meine Beine übers Geländer zu schwingen. Ich hatte den reißenden Fluss gesehen, die wilde Strömung. Ich wollte, dass endlich alles aufhört, will es immer noch, aber nicht so. Ich will keine Schmerzen, kein Leid mehr spüren. Davon habe ich schon genug. Die beste Möglichkeit wäre einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Ich will gar keine tolle heile Welt, falls das jetzt jemand denkt, ich will nicht mal, dass jemand für mich da ist, ich will nicht, dass alles besser wird. Das war einmal. Aber ich habe die Hoffnung aufgegeben.
Wie sagt man so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Also... dann muss ich wohl schon ganz nah dran sein an meinem Ende.
Da gibt es noch so ein tolles Sprichwort: Man kann alles schaffen, man muss es nur wollen. Tja, wenn das einzige was ich will, alles zu beenden, ist, sollte mein Wunsch dann nicht so langsam mal in Erfüllung gehen? Ich kann nicht länger warten, sonst nehme ich das alles selbst in die Hand.
Aber schweifen wir nicht vom Thema ab, ich meine, wen interessieren bitte meine Probleme? Tut mir echt leid, dass ich für die Welt vielleicht irgendwann egoistisch rüberkommen mag oder so, aber ich kann einfach nicht mehr. Ich kann nicht das Musterkind spielen und mich für alle perfekt geben, während ich von innen ausgezehrt werde.
Wie ihr seht, habe ich aufgegeben. Aber egal - kommen wir zu meiner Situation im Bad des Hotels Joyce. Ich sitze da also immer noch unter der Dusche, während meine Gedanken mal wieder zu Sinnlosem abgeschweift sind. Also wische ich mir die Tränen vom Gesicht, stehe auf und schalte das Wasser ab, das mittlerweile nur noch eiskalt ist. Wie viel Zeit ist wohl vergangen? Ich weiß es nicht.
DU LIEST GERADE
Zu Kopf gestiegen (ON HOLD)
Teen FictionAlice ist 16 und lebt in Berlin. Ihre Eltern leben noch, sie hat eine jüngere Schwester, einen Freund und geht auf eine ganz normale Schule. Man könnte fast meinen, ihr Leben wäre perfekt. Doch sie sieht das völlig anders. Ihre Eltern hassen sie, ih...