Kapitel 4

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Linda

"So, kann mir jemand sagen, wie der Kniesehnenreflex entsteht?"

Meine nervige Biolehrerin schlug in ihre Hände und sah erwartungsvoll in die Klasse. Keiner der siebenundzwanzig Schüler machte einen Murks. Kein Wunder, es war die erste Stunde an einem Dienstag Morgen, zu dem war das hier noch ein Bio Leistungskurs, was zur Folge hatte, dass wir diesen Kurs mit der Stufe über uns hatten. Jedenfalls die, die sich mehr oder weniger freiwillig für diesen Kurs eingeschrieben haben. Das waren zum Beispiel ich und Nelly. Meine beste Freundin hatte mich dazu gezwungen, weil sie später mal Arzt werden wollte, oder Hebamme, jedenfalls irgendetwas in dieser Richtung. Und nun saß ich hier an einem ekligen Biotisch, in der letzten Reihe, und sah aus dem Fenster, da mich die Junkies, die dort draußen vor dem Schulgebäude hockten und sich ihre Joints drehten, mehr faszinierten als der billige Unterricht bei Miss Carmody. Meinem Bruder ging es ähnlich, er saß ein paar Reihen vor mir und fuhr sich durch seine blonden Locken. Keine Ahnung warum er sich für diesen dämlichen Kurs eingeschrieben hat. Am wenigstens machte es Sinn, dass gerade Michael und Luke neben ihm in den großen Holzstühlen saßen. Wenn ich so dumm wäre wie die beiden, und das war schon fast nicht mehr möglich, würde ich mich nicht noch für einen Leistungskurs einschreiben. Leistung brachten die Freunde meines Bruders eh nicht, dass einzige was sie machten, war dem armen Mädchen, mit wunderschönen braunen Locken, welches vor Luke saß, Papierkugeln ins Haar zu werfen.

"Also, der Muskel, der den Kniesehenreflex auslöst, sitzt auf dem Oberschenkel. Zwischen Ober-und Unterschenkel befindet sich eine starke Sehne. Wenn man dann auf eine bestimmte Stelle leicht drauf schlägt, zieht die Sehne am Muskel und ja, das Knie schnellt dann halt nach vorne."

"Sehr gut, Misses Dixon." Meine Biolehrerin drehte sich zur Tafel und schrieb irgendwelche biologischen Fachbegriffe ran, die hier sowieso keiner versteht.

"Streberin", grummelte ich und öffnete meinen Block.

Nelly, die vor mir saß, drehte sich zu mir und zwinkerte.

Ich rollte mit den Augen und schrieb die Sachen von der Tafel ab, bis Harry, mein Sitznachbar mich anschuckelte.

"Man Harry", fauchte ich, als ich quer über mein Tafelbild eine Linie zog.

"Sorry", kicherte er. Als ob es dir wirklich leid tun würde. "Hier, der ist für dich." Er schob mir einen kleinen, zusammengefalteten Zettel zu.

"Von wem ist der?", fragte ich den Footballspieler und hob eine Augenbraue.

"Keine Ahnung", flüsterte er und nahm seinen blauen Füllhalter wieder in die Hand.

Vorsichtig öffnete ich den karierten Zettel und laß mir durch, was dort unordentlich in blauer Tinte geschrieben stand.

Liebster Winnie Puuh,

was hältst du davon, wenn wir beide, ganz ohne Tigger, Ferkel, I-Ah und Rabbit, mal was unternehmen? Möchtest du mit mir einen Kaffee trinken gehen? Wenn du möchtest, auch mit Honig. ;)

Dein ergebener

Pumuckl

Ich traute meinen Augen nicht. Hatte Michael, der Michael, der ein absoluter Draufgänger war und sich gerne voll laufen ließ, mich gerade zum Kaffee trinken eingeladen? Ich riss eine Ecke von meinem Blatt Papier ab und schrieb ihm eine Antwort.

Liebster Pumuckl,

Winnie Puuh steht nicht auf Kaffee. Auch nicht mit Honig.

"Gib das mal an Michael weiter", flüsterte ich Harry zu und schob das gefaltete Papier vor seine Nase. Er gab es seinem Sitznachbarn und flüsterte: "An Clifford."

Dann wendete er sich mir zu. "Du willst was von Clifford?", fragte der Braunhaarige mich und seine grünen Augen funkelten. Dachte Harry wirklich ich bin so blöd und rede mit ihm über Michael? Die beiden waren schließlich befreundet.

"Was geht dich das denn an?", engegnete ich ihm und schrieb die letzten Stichpunkte von der grünen Tafel ab.

"Also stehst du auf ihn!", quitschte Harry und das nicht gerade leise. Beinahe der ganze Kurs starrte mich an, darunter auch die stechenden grünen Augen von Michael. Ashton warf mir einen fragenden Blick zu, worauf ich rot wurde. Mein Bruder bedeuetete mir mit einer einfachen Geste seiner Hand, dass wir nach der Stunde reden würden. Himmel, Herr Gott, dass wird peinlich.

"Miss Irwin und Mister Styles, könnten Sie bitte Ihre Konversation einstellen?", ertönte die Stimme meiner Lehrerin.

"Natürlich, Miss Carmody", antwortete Harry in einem schrillen Tonfall, worauf einige anfingen zu kichern. Ich nickte einfach nur peinlich berührt und sah dann zu Harry, der mich angrinste wie ein Honigkuchenpferd. Seine niedlichen Grübchen stachen mir sofort ins Auge. Ich hatte noch nie bemerkt, dass er Grübchen hatte.

"Guck mich nicht so pädophil an, sonst hol ich noch mein Pfefferspray raus", grummelte ich.

"Du hast Pfefferspray bei dir?" fragte er und runzelte die Stirn.

"Ne." Und schon wieder fing Harry an zu kichern.

"Womit hab ich das nur verdient?" Ich legte meinen Kopf auf die Kante des kalten Tisches und sah mir meine Beine an.

"Ihr wärt ein süßes Paar", flüsterte mir Harry ins Ohr.

Genervt stöhnte ich und hob meinen Kopf, um Harry in die Augen zu sehen. Dieser Kerl war einfach ein hoffnungsloser Fall.

"Wir wären bestimmt kein süßes Paar", äffte ich seine Stimme nach,"ich will nichts von Michael. Ich mag ihn nicht mal. Er wäre der letzte auf dieser Welt mit dem ich was anfangen würde. Ach nein, warte. Ich würde nicht mal was mit ihm anfangen, wenn er der letzte Mensch auf dieser gottverdammten Welt wäre. Er ist einfach widerlich. Lieber säuft er sich das Hirn weg, als mal daran zu denken, dass er sich damit die Zukunft kaputt macht. Er hurt in der Gegend rum, Harry. Mit so jemanden könnte ich nie was haben, weder will ich es, noch kann ich mir es jemals vorstellen."

Ein "Wow" entfuhr Harrys Lippen. "Linda Irwin teilt der Welt endlich mit, was sie wirklich denkt." Wild wackelte er mit den Augenbrauen.

"Du bist so ein Idiot", giggelte ich und haute ihm spielerisch gegen den Arm.

Harry öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als ihn die Schulklingel unterbrach. Hastig packte er seine Sachen zusammen, während ich ihm dabei zusah. Ich wollte wissen, was er mir mitteilen wollte.

"Ich hab Sport, Kleine. Bis später", er strich mir über den Kopf und rannte aus dem Raum. War das jetzt sein Ernst? Seufztend sah ich Harry hinterher, auch wenn er schon längst den müffelnden Bioraum verlassen hatte. Ich nahm meine Sachen und stopfte sie in meinen Rucksack.

"Was haben wir jetzt?", fragte ich Nelly, die vor meinem Tisch stand und mir zusah, wie ich meinen Rucksack schulterte.

"Chemie", antwortete mir die Blondine und wir liefen gemeinsam auf den Flur. Ich stöhnte kurz auf. Wieder eines meiner Lieblingsfächer. Plötzlich packte mich jemand am Arm.

"Was ist denn, Ashton?", fragte ich desinteressiert. Er lächelte kurz Nell zu und schliff mich dann wortlos über den Flur. "Wir müssen reden." Wieso klang seine Stimme schon wieder so sauer? Hatte mein Bruder etwa Stimmungsschwankungen? Wäre er kein Kerl, würde ich vermuten, dass er schwanger ist.

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Dankeschön, für die über 100 Reads. :D

to the moon and back || mgc Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt