PEOPLE SICKNESS - 1

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Montag, 19. Juni 2051, 15:31 Uhr

Der monochrome Mann sieht mich nicht an. Er vermeidet den Blickkontakt, als wäre ich ein Raubtier, das es auf ihn abgesehen hat. Mit seinem farblosen Haar und der aschfahlen Haut wirkt er wie eine Gestalt aus einem alten Schwarz-Weiß-Film. Zögerlich kratzt er sich am unrasierten Kinn. Alles, was er tut, ist unendlich langsam. Als würde es ihn enorme Anstrengung kosten. Auch die Worte kommen ihm nur schleppend über die Lippen.

Für mich ist das kein ungewohnter Anblick. Zahlreiche Bewohner des Bunkers leiden unter derartigen Symptomen. In Anbetracht der Umstände ist das wohl kein Wunder. Wir haben viel durchgemacht. Auch wenn es wie eine schlechte Schlagzeile klingt: Seit dem großen Ausbruch der PEOPLE SICKNESS im Jahr 2021 ist die Welt nicht mehr, wie sie einmal war. Sie ist kälter geworden und leerer. Manchmal komme ich mir vor wie eine Winterbiene im November - ich habe die emsigen Sommerbienen sterben sehen und kuschele mich jetzt mit dem Rest des Bienenvolks zusammen, beim verzweifelten Versuch, durch Zittern und Bibbern genug Wärme zu erzeugen, um die eisigen Wintermonate zu überstehen. Doch im Gegensatz zu den Bienen, die genau wissen, dass irgendwann der Frühling kommen wird, bin ich mir in dieser Hinsicht nicht so sicher.

Die Krankheit mit dem reißerischen, aber nicht unpassenden Namen PEOPLE SICKNESS hat in den vergangenen dreißig Jahren die halbe Menschheit dahingerafft. Vielleicht sogar noch mehr. Überall, wo Menschen zusammenkommen, hat der Erreger Humanobacter multinumeri zugeschlagen. Ganze Metropolen sind ihm zum Opfer gefallen. Eigentlich ist er ein harmloser, kleiner Keim, der in den Atemwegen jedes Menschen zu Hause ist. Erst wenn er die Anwesenheit seiner eigenen Art bemerkt, zum Beispiel, wenn sich zwei Menschen begegnen, verwandelt er sich in ein blutdürstiges Monster-Bakterium. Quorum Sensing nennt sich das. Kein neuer Mechanismus, aber eine neue Art der Vernichtung. Jedenfalls hat er uns Menschen an einer Schwachstelle erwischt: unserem Hunger nach sozialem Anschluss.

Manchmal denke ich, dass die PEOPLE SICKNESS eine Konsequenz unseres eigenen Handelns ist. Eine Rache der Natur, die nach Ausgleich strebt. Ein Weg, die außer Kontrolle geratene menschliche Population zu kontrollieren. Aber was weiß ich schon? Ich bin nur eine 35-jährige Psychologin, die seit dreiundzwanzig Jahren in einem hermetisch abgeschotteten Bunker vor den Toren der einstigen Großstadt Frankfurt festsitzt - zusammen mit etwa fünftausend anderen Bewohnern, zu denen sie niemals persönlichen Kontakt haben wird. Alles, was wir haben, sind die internen Video-Chats und der Marketplace. Anstatt nach einem erfüllten Leben zu streben, hoffen wir nur noch, irgendwie zu überleben.

Ich lasse den monochromen Mann, der auf den Namen Winfried Schneider hört, ausreden, solange es auch dauert. Mein nächster Termin ist ohnehin erst um siebzehn Uhr. Während ich auf den Bildschirm starre, bereitet Cäsar meine Kleidung für den nächsten Tag vor. In meinem Kopf ist er ein hochgewachsener Mann in einer schwarzen Livree, mit prominenter Römernase und einem Lorbeerkranz auf den dunklen Locken. In Wahrheit ist Cäsar lediglich der Name, den ich meiner AVE, meiner Automatischen Versorgungs-Einheit, gegebenen habe. Die AVE innerviert meine gesamte Wohnkapsel und organisiert darüber mein ganzes Leben, vom frühmorgendlichen Weckdienst, über das Zusammenstellen meiner bunten Pillen, bis hin zum Zubereiten meiner Mahlzeiten und der Pflege meiner Kleidung. Was das angeht, ist Cäsar sehr gewissenhaft.

Als Winfried seine Ausführungen über den Schmerz und die Einsamkeit beendet hat, hebt er zum ersten Mal den Kopf, um mir einen nervösen Blick zuzuwerfen. Man sagt, dass im Moment des Todes der Glanz aus den Augen weicht, aber bei manchen Menschen ist das schon viel früher der Fall. Und so seltsam es auch klingen mag: Ich kann Winfried gut verstehen, auch wenn ich nicht auf die gleiche Weise unter den Umständen leide und nicht halb so viel Schmerz erlebt habe, wie er durch den Verlust seiner Familie und Freunde erleiden musste.

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