10.) Das Leben geht weiter

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Nun sitze ich hier schon drei Stunden im Wartezimmer. Ich hasse meine Termine beim Psychiater! Aber ich muss ja hingehen,  auch wenn es nichts bringt. Das ist nicht nur meine Meinung,  sondern auch die Meinung der Schulsozialarbeiterin. Nach elend langem Warten bin ich endlich dran. Der Raum ist groß,  kal, kalt und ungemütlich. Als er rein kommt würde ich am liebsten flüchten.

Das Hauptthema heute ist natürlich der Brief. Er liegt vor ihm,  liest ihn vor und ich höre nicht zu. Währenddessen überlege ich eher,  wer ihm wohl den Brief gegeben hat. Ich schätze mal mein Dierex. Es dauert eine ganze Stunde bis wir den ganzen Brief auseinander genommen haben.  Er fragt viel,  aber ich antworte nur kurz. Ich will nach Hause. Nein. Nicht nach Hause. Ich will nur weg hier. Vielleicht in die Stadt und ein wenig shoppen.

Nachdem er merkt,  dass ich fast nur noch schweigend und mit den Gedanken völlig abwesend vor ihm sitze, lässt er mich gehen. Vorher muss ich ihm noch versprechen,  mich bis zum nächsten Treffen nicht umzubringen. Das dürfte klappen, da ich mich sehr erleichtert fühle,  nachdem meine Eltern wissen,  wie schlecht es mir geht.

Bevor ich nach Hause fahren,  gehe ich noch in die Buchhandlung,  wo mein Schatz arbeitet. Er scheint momentan mit mir und meiner Situation etwas überfordert zu sein, aber gibt sich trotzdem die größte Mühe,  damit es mir gut geht.  Ich erzähle ihm kurz von den elendigen Stunden und ganz plötzlich bin ich so müde,  dass ich fast im Stehen einschlafen könnte. Zu Hause angekommen ist die Stimmung sehr bedrückt. Wir essen kurz etwas und dann gehe ich sofort zu Bett.

Die nächsten Tage und Wochen sind sehr durchwachsend. Manchmal geht es mir gut,  manchmal schlecht. Zwischen meinen Eltern und mir ist die Beziehung auch unterschiedlich.  Wir verstehen uns nach und nach wieder besser,  aber ich glaube,  dass sie das ganze noch nicht wirklich verarbeitet haben. Ich bekomme Vorwürfe jeglicher Art, aber da muss ich drüber hinweg gucken. Meine Schulsozialarbeiterin unterstützt mich so gut es geht,  bis sie vier Wochen auf Grund von Krankheit ausfällt und ich sehen muss,  wie ich klar komme. Aber auch diese Zeit überstehe ich,  wenn auch sich meine Narben vermehren. Zu dem Psychiater gehe ich nur noch einmal,  bis ich Ende Februar mit der Schulsozialarbeiterin abmache, dass es dort keinen Sinn mehr macht und ich anderswo Hilfe benötige.

In der Schule geht es träge voran. Ich gebe täglich mein bestes,  versuche aufzupassen, aber ich glaube es gelingt mir nicht so gut. Meine Konzentration ist schwächer als sonst.

In dieser schwierigen Zeit habe ich aber nette Mädels um mich herum. Mädels, denen es ähnlich geht wie mir.  Über WhatsApp schreiben wir täglich,  wobei es nicht nur um unsere Probleme geht,  sondern hauptsächlich ums Abnehmen. Es ist eine ana Gruppe. Um genau zu sein: pro ana, also für Magersucht. Ich weiß das das viele für unnormal halten, aber ich stehe dazu und möchte um alles in der Welt abnehmen. Wirklich Magersüchtig bin ich nicht, aber ich will es werden. Dafür kämpfe ich.

Neben den Mädels habe ich ja auch noch meinen Freund. Wenn wir uns treffen,  dann meistens in der Stadt oder bei mir zu Hause.

Wir verabreden uns für den 23.03. An diesem Tag gehen meine Eltern am  Nachmittag zum Tanzkurs und Abends gehen wir ins Musical. Ich habe meinen Freund so lange nicht mehr in den Arm nehmen können und deshalb erlaube ich ihm für eine kurze Zeit zu kommen,  auch wenn ich eigentlich noch viel vorbereiten müsste an diesem Tag.

Gegen sechzehn Uhr ist er da und ich fühle mich wie jedes Mal, wie vor dem ersten Date. Dabei waren wir schon etwas Intimer. Es ist schön verliebt zu sein und geliebt zu werden.

Als ich die Tür auf mache, konnte ich noch nicht ahnen,  dass es der schlimmste Nachmittag seit langem werden wird.

HungerliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt