06 | s e c h s

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[She - Harry Styles]

LANGSAM DREHE ICH mich zum Spiegel und starre hinein.

Ein fremdartiges Gefühl übermannt mich, raubt mir die Luft zum Atmen.
Wer ist das?

Das einzige, was ich an mir wieder erkenne, ist mein Blick, der Ausdruck auf meinem Gesicht. Der Rest ist mir fremd und neu.

Ich war dieses Wochenende die ganze Zeit über in der Klinik, ohne einmal in den Spiegel zu schauen.

Es war eine extra lange und wirksame Behandlung, die ich fast ganzzeitig im bewusstlosen Zustand verbrachte, an irgendwelche Schläuchen und Kabeln angeschlossen.

»Gefällt es dir?« Die Krankenschwester erscheint hinter mir, in der Hand hält sie ein Klemmbrett, auf ihrem Mund klebt ein künstliches Lächeln.

»Denke schon«, gebe ich leise von mir und wende dann schweratmend meinen Blick von dem großen Spiegel ab.

»Dein Vater sitzt schon im Büro, bei Doctor Wilson«, sagt die Krankenschwester, Ms White, und notiert sich etwas auf einem Formular auf ihrem Brett.

»Okay.« Ich suche nach meinen Schuhen und entdecke sie schließlich halb unter dem unbequemem Krankenhausbett. Vorsichtig gehe ich darauf zu, bin noch ganz wackelig auf den Beinen.

»Du kannst dann zu ihnen gehen«, fährt Ms White fort und verlässt dann das Zimmer.

Stille umgibt mich.

Langsam sinke ich aufs Bett und fische die weißen Sneaker darunter hervor.

Als ich sie anhabe, atme ich tief durch und erhebe mich. In meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander und ich weiß gar nicht, an was ich denken soll. Keine einziges klaren Gedanken bekomme ich zu fassen.

Mein Blick fällt auf die verglaste Wand gegenüber von mir. Der Raum dahinter ist leer und dunkel, aber kaum verlasse ich mein Zimmer und betrete ihn, klicken die Neonröhren an der Decke und schalten sich an.

Gleißendes helles Licht überflutet alles und ich blinzle kurz, um mich daran zu gewöhnen.

Dann gehe ich zur Tür und beschreite den Korridor dahinter, gehe schnell Richtung Büro, die Stille folgt mir.

»Herein«, ertönt die tiefe Stimme von Doctor Wilson, als ich an die schlichte Bürotür klopfe. Vorsichtig drücke ich die Messingklinke runter und schlüpfe in den Raum.

Mein Vater sitzt auf einem der gepolsterten Stühlen gegenüber von Doc. Wilsons riesigen Schreibtisch, hinter welchen dieser thront und zu mir rüber schaut.

Als er ein breites Lächeln aufsetzt, strahlen seine Zähne beinahe so hell, wie die goldene Schreibtischlampe neben ihm.

»Wie geht es dir?«, fragt er gut gelaunt und erhebt sich, umrundet seinen Tisch und steht schließlich vor mir.

»Ganz gut, denke ich«, antworte ich knapp und schiele zu Dad hinüber, der mich mit offenen Mund anstarrt.

Unbehaglich wende ich meinen Blick ab und richte ihn stattdessen wieder auf den schleimigen Doktor.

»Das ist schön zu hören!«, meint dieser jetzt fröhlich und breitet seine Arme aus, als würde er ein Gebet sprechen wollen.

Doch stattdessen umarmt er mich.

Ich bleibe einfach reglos stehen, erwidere sie nicht, wehre sie dennoch aber nicht ab.

Als er sich wieder von mir löst, hat er immer noch das strahlende Lächeln auf dem Gesicht und deutet auf einen Stuhl neben meinem Dad. »Setz dich bitte.«

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