20 | z w a n z i g

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[mind - sleeping at last]

MISSTRAUISCH SCHAUT MICH Talia über die Schulter der Visagistin an. Ihre Augenlider sind mit Glitzer bedeckt und ihr wurde ein dicker, schwarzer Eyeliner gezogen.

Ich weiche ihren Blick aus und schaue in den Spiegel, beobachte, wie ich geschminkt werde. Mein Make-Up ergänzt sich perfekt zu dem von Talia.

»Geht's dir wirklich gut?«, fragt sie zum gefühlt hundertsten Mal heute und ich verdrehe die Augen.

»Ja, mir geht's immer noch gut, genau wie vor zehn Minuten.« Ich seufze tief, meine Stimme klingt genervt und sie scheint das zu merken, denn sie presst nun die Lippen zusammen und wendet den Blick ab.

Am liebsten würde ich ihr die Wahrheit sagen. Ihr sagen, dass es mir mehr als nur schlecht geht. Dass ich morgens meine Gliedmaßen nicht spüren kann und nicht aus dem Bett aufstehen kann. Dass mich eine unsichtbare Macht immer nach unten drücken will, egal was ich mache. Dass sie ihre kalten Finger an meiner Kehle hat, jeden Moment bereit, zu zudrücken. Dass sie mir den Atem raubt. Mein Herz vor Panik laut pochen lässt. Dass ich den Druck zuhause kaum noch aushalte, den Druck den mir mein Vater jeden Tag gibt. Mit den Worten, dass ich berühmt werde und sein ganzer Stolz bin. Im nächsten Atemzug redet er immer von der Klinik und schwärmt von weiteren Eingriffen. Aber ich kann es ihr nicht erzählen, es will mir einfach nicht gelingen, auch wenn ich es –

»Sydney? Lebst du noch?«, reißt mich Talia aus meinen Gedanken und ich nicke abwesend. Erst da bemerke ich, dass sie aufgestanden ist und unsere Visagistinnen fertig sind.

Wackelig erhebe ich mich und wir gehen in den Hauptraum, in dem der Fotograf wahrscheinlich schon auf uns wartet. Heute werden wir zusammen für eine Kosmetikmarke abgelichtet – Nahaufnahmen von unseren Gesichtern, damit man das Make-Up gut sehen kann.

Doch bevor wir die Tür erreichen, hält mich Talia am Arm fest und dreht mich zu sich. »Sydney, warte mal«, ihr Gesicht ist voller Sorge, »ich weiß, dass wir uns noch nicht lange kennen, aber ich spüre doch, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich dränge dich nicht, es mir zu sagen. Aber«, sie hält kurz inne und ihr Ausdruck wird weicher, »ich mag dich wirklich. Und solltest du jemals eine Pause von deinem Alltag brauchen – bei Marissa und mir bist du immer herzlich willkommen, egal für wie lange Zeit.« Ihr Blick ist so voller Wärme und ihre Worte so berührend, dass mir Tränen in die Augen schießen.

»Danke«, flüstere ich blinzelnd, um die Tränen zurückzuhalten, damit das Make-Up nicht verläuft, und sie erwidert es mit einem liebevollen Lächeln.

Gemeinsam betreten wir den Hauptraum und werden von einem freundlichen Team begrüßt.

Der Fotograf schüttelt uns erfreut die Hände, schenkt uns ein warmes Lächeln und bringt uns mit Worten in die richtige Position. Neben ihm steht eine Frau, die ebenfalls Fotos macht, aber von einer anderen Perspektive.

Talia und ich stellen uns vor die weiße Fotowand und fangen an, zu posieren. Ich schalte meine Gedanken aus und konzentriere mich nur auf die schwarze Linse der Kamera.

Doch trotz der Medikamente, die ich heute Morgen hektisch geschluckt habe, fühle ich mich schwach, erschöpft und zittrig.

Talia merkt es, ich spüre, wie sie mich in den kurzen Momenten zwischen den Fotos besorgt anguckt, aber ich drehe mich kein einziges Mal in ihre Richtung.

Erst als der Fotograf zufrieden in die Hände klatscht und »Zwischenpause!« ruft, seufze ich tief und schaue sie an.

Ihre Brauen sind hoch gezogen und ihre Lippen sind geschürzt. »Sydney, rede doch mit mir.« Sie fleht beinahe, dann greift sie nach meiner Hand und drückt sie sanft. »Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn es einem selbst richtig schlecht geht.« Ihre Augen suchen jetzt den genauen Kontakt mit meinen. »Ich kann dir helfen. Du musst mich nur lassen.«

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