Kapitel 4 - Natürlich hast du ein Haus in einer anderen Welt

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Eher instinktiv begann Ethan sofort zu fauchen, während seine Katzenohren aufmerksam nach oben standen. Angespannt beobachtete er, wie ein Busch wenige Schritte von ihnen entfernt wackelte... und ein Mensch herauskam. Ein wenig überrascht stoppte Ethan das Fauchen. Wenn er ein was nicht erwartet hatte, dann war das ein normaler Mensch. Doch der junge Mann vor ihm sah ziemlich normal aus, wenn man von den dunkelgrünen Haaren und dem irritierten Gesichtsausdruck absah. Und von den mittelalterlichen Klamotten. 
„Wer bist du denn?" Die Frage war Ethan eher vor Überraschung rausgerutscht. Dabei hatte er gar nicht bedacht, dass er immer noch ein Kater war. Aber offenbar störte dies seinen grünhaarigen Gegenüber nicht im Geringsten, da dieser sofort eine Augenbraue hob. 
„Die Frage könnte ich dir genauso stellen. Ich wohne in dem Dorf hier in der Nähe und dich habe ich hier in der Gegend noch nie gesehen", gab der Grünhaarige zu bedenken, während er die Arme vor der Brust verschränkte. 
Ethan seufzte sofort genervt, als er bemerkte, dass der andere wohl eher Recht hatte. Dann aber schüttelte er den Kopf, als ihm etwas viel wichtigeres einfiel. „Lassen wir diesen albernen Blödsinn. Ich brauche deine Hilfe...", begann er, während er wieder zurück in Richtung Levin lief.
Er hörte noch am Rande, dass der Fremde ihm folgte, während dieser sagte: „Nenne mir auch nur einen guten Grund, aus dem ich dir helfen... Levin!"
Irritiert sah der schwarze Kater nun hoch und beobachtete, wie der Fremde sich neben seinen Klassenkamerad kniete. Ethan wusste nicht, was ihn mehr überraschte. Die Tatsache, dass der Fremde Levin offenbar kannte, oder die Tatsache, dass dieser den Namen so eigenartig aussprach. 
„Du hättest sofort sagen sollen, dass du mit Levin hierhergekommen bist und dass es ihm nicht gut geht", beschwerte der Grünhaarige sich und Ethan glaubte langsam wirklich wahnsinnig zu werden. 
„Woher hätte ich denn wissen sollen, dass du Levin kennst?! Oder dass du jemand bist, der ihm helfen kann?!", fragte der Kater empört, während er fragend beobachtete, wie der Fremde Levin nun hochhob und in die Richtung loslief, aus der er gekommen war. „Lauf doch nicht einfach weg!", beschwerte Ethan sich weiterhin laut, bevor er hilflos zu Levins Tasche lief. Schließlich nahm er den Riemen der Tasche mit dem Mund und zog die Tasche hinter sich her, bevor er dem Fremden schnell folgte. Es wäre immerhin eine Katastrophe, wenn ein Fremder mit der einzigen Person abhauen würde, die ihm das alles hier erklären könnte. Oder ihn zurück dahin bringen könnte, wo sie hergekommen waren.
Sowie er zu ihm aufgeholt hatte, begann dieser zu sprechen. „Anscheinend bist du auch jemand, der aus dieser komischen anderen Welt oder wie er es immer bezeichnet kommt. Mein Name ist im übrigen Tongrim. Ich bin... na ja, könnte man mich als eine Art Freund bezeichnen? Vermutlich. Zumindest zu den Zeiten, wo er hier ist. Es ist nicht das erste Mal, dass er hier so dramatisch landet..." Danach gab Ethan das Zuhören endgültig auf. Er bekam vage mit, dass der andere begann, irgendwelche Geschichten zu erzählen. Teile der Begriffe verstand er sowieso nicht, andere Teile ergaben für ihn keinen Sinn, weshalb er nur schweigend nebenherlief. Mit der Tasche im Mund hätte er sowieso keine Antworten geben können, und selbst wenn hätte er nicht gewusst, was genau er antworten sollte.
Nachdem sie eine ganze Weile durch den Wald gelaufen waren, wurde dieser immer lichter, bis sie plötzlich vor einem breiten, gemütlich fließenden Fluss standen, hinter dem sich ein kleines Dorf erstreckte.
„Wenn ich vorstellen darf: Muranuu, das Dorf zwischen den Flüssen", meinte Tongrim nun, der immer noch ohne weitere Anstrengungen Levin trug.
„Waff für ein todder Name", antwortete Ethan augenverdrehend, ohne die Tasche fallen zu lassen und lief dem anderen hinterher zu einer Art kleinem Bootsanleger, wo mehrere kleine hölzerne Ruderboote lagen, die ganz offenbar dafür waren, den Fluss zu überqueren um zum Dorf zu gelangen. Muranuu oder wie auch immer dieses Dorf hieß entsprach seinem Namen wirklich genau. Die Häuser befanden sich auf einer Art kleinen Insel zwischen zwei Flüssen, die sich einmal um das Dorf zogen, bevor sie als ein großer Fluss weiter im Wald verschwanden. Ethan war kurz fasziniert stehengeblieben. Erst jetzt, wo er dieses altertümliche Dorf sah, wurde ihm so wirklich bewusst, wo er war. Sie waren durch den Müllcontainer der Schule offenbar wirklich in dieser anderen Welt gelandet, die Levin angesprochen hatte... Als er sah, dass Tongrim Levin inzwischen in einem der Ruderboote abgelegt hatte und ihn erwartend ansah, lief er schnell zu diesem Boot und sprang mitsamt der Tasche hinein.
„Wie heißt du eigentlich?", fragte der Grünhaarige, während Ethan versuchte, es sich möglichst bequem zu machen.
„Ethan...", antwortete er dann, während Tongrim sich mit einem Paddel nun vom Anleger abstieß und zu paddeln begann.
„Ein eher ungewöhnlicher Name, oder? Oder sind solche Namen bei euch etwa normal?" 
„Normaler auf jeden Fall als Tongrim", lautete nur Ethans schlichte Antwort. Er wollte sich auf keinen Fall in einem winzigen schwankenden Boot mit einer ihm immer noch fremden Person über Namen zu streiten. Stattdessen fragte er nur: „Müssen Boote so schwanken?" Er war kein sonderlicher Profi im Umgang mit Booten, besonders nicht was Ruderboote anging, allerdings meinte selbst er erkennen zu können, dass Tongrim sich nicht gerade gut mit diesem Boot anstellte.
Als dieser ein klein wenig rot wurde, verstärkte sich sein Verdacht nur noch mehr. „Eigentlich nicht. Hanami sind nicht sonderlich gut im Umgang mit Booten", murmelte er, während er weiter mit einem Paddel kämpfte, was Ethan ihm so gerne sofort aus der Hand gerissen hätte, hätte er Hände gehabt.
„Was zur Hölle ist Hanami?" Schon vorhin in seinem ewig langen Monolog hatte Tongrim dieses Wort benutzt, aber hatte nicht im Geringsten erklärt, was es denn eigentlich sein sollte.
Mit einem überraschten Gesichtsausdruck stoppte der Angesprochene kurz mit seinem Paddel-Kampf und sah ihn an. „Du weißt nicht, was das ist? Hat Levin dir nichts erklärt?" 
Sofort warf er einen Blick zu dem immer noch bewusstlos daliegenden Levin und selbst als Kater konnte man ihm seinen Ärger ein wenig ansehen. „Nein, hat er nicht. Er hat mir gar nichts erzählt."
„Oh... Na dann haben wir ja noch eine Menge vor uns", sagte Tongrim seufzend. Gerade, als er dann wieder anfangen wollte zu paddeln, tauchte neben ihrem Boot mitten im Wasser das Gesicht einer jungen Frau auf. Ethan wich sofort von dieser Seite des Bootes zurück und stolperte über eines von Levins Beinen, was selbst als Kater nicht sonderlich elegant aussehen konnte. Zumindest begann die junge Frau zu kichern, mit einem Blick auf ihn.
„Hast du einen neuen Freund gefunden? Ist er ein Tokosu?", fragte sie und Tongrim, der kurz ein wenig geschockt ausgesehen hatte, sich nun aber wieder fing und nickte.
„Ob man ihn einen Freund nennen kann weiß ich nicht genau... Aber ja, ich nehme mal an, er ist ein Tokosu", antwortete er nickend.
„Er könnte doch auch selbst antworten. Er sieht wirklich niedlich aus", antwortete sie und streckte ihm nun die Hand entgegen, während sie sich mit der anderen an ihrem Boot festhielt. Ethan fehlten immer noch die Worte. Sie war wirklich eine Schönheit mit ihren langen, lilablauen Haaren und dem ebenmäßigen Gesicht... Dennoch hatten ihre beinahe schon strahlendblauen Augen irgendetwas... kaltes und gefährliches an sich. Noch bevor er irgendetwas sagen konnte, war ihr Blick auf Levin gefallen und helle Begeisterung sprach aus ihrem Blick.
„Levin ist wieder da! Wie schön. Es scheint ihm aber nicht so gut zu gehen. Sollte ich ihn vielleicht mit mir nehmen, um ihm zu helfen?" Mit einem strahlenden Lächeln sah sie Tongrim an und dieser schüttelte leicht den Kopf.
„Das kann ich selbst schon übernehmen. Du weißt doch, dass ich Leute gut heilen kann. Es wäre aber eine große Hilfe, wenn du uns über den Fluss bringen könntest." Er schien ein wenig nervös zu sein und ihr Lächeln verschwand ein klein wenig, aber sie nickte und das Boot schien sich nun von alleine in Richtung der anderen Seite des Flusses zu bewegen. Erst jetzt wurde Ethan bewusst, was diese junge Frau vermutlich war und warum sie auch im Fluss lebte: sie war eine Art Meerjungfrau oder ähnliches... Die restliche Fahrt über schwiegen alle beteiligten. Ethan konnte nicht umhin, die Meerjungfrau die ganze Zeit anzustarren, deren Blick lag allerdings die ganze Zeit mit einem sehnsüchtigen Blick auf Levin, während Tongrim sie beinahe schon warnend ansah.
Sowie sie auf der anderen Seite angekommen waren, machte Tongrim das Boot fest und sprang schnell heraus, bevor er Levin vorsichtig wieder hochhob. „Danke", sagte er knapp zu ihr und sie löste sich nun mit einem letzten Blick von Levin zu Ethan, bevor sie noch einmal lächelte und im Fluss verschwand. Erst dann schaffte Ethan es, sich von seinem Platz bisher zu lösen, die Tasche zu schnappen und an Land zu springen.
„Warum wolltest du nicht, dass sie Levin hilft?", fragte er, während er die Tasche kurz noch einmal losließ, sie dann aber wieder mit dem Mund schnappte und hinter Tongrim herlief.
„Weil man ihr nicht trauen kann. Sie hätte ihn vermutlich mit sich unter Wasser gezogen und ihn dort entweder ertrinken lassen, damit er dort auf alle Ewigkeit mit ihr bleiben kann, oder sonst etwas. Sie mochte ihn schon seit er das erste Mal hier war und kann seitdem nicht anders, als immer wieder zu versuchen, ihn zu sich zu holen", erklärte Tongrim mit einem leicht genervten Ton, während er nun eines der kleinen Holzhäuser ansteuerte. „Das ist übrigens Levins Haus. Ich wohne hier hin und wieder in seiner Abwesenheit", fügte er dann noch hinzu, während er die Tür öffnete.
‚Natürlich, was sollte ich auch anderes erwarten... Wohnt in der Wohnung seines verschwundenen Vaters, hat aber ein eigenes Haus in einer anderen Welt', dachte Ethan sich und verdrehte erneut nur die Augen, froh darüber, dass er das auch als Kater wenigstens noch konnte. Dann betrat er hinter Tongrim die Hütte und sah sich sofort neugierig um. Besonders groß war es nicht unbedingt. Sie befanden sich in einem spärlich eingerichteten Raum, von dem aus man durch zwei weitere Türen in zwei weitere Räume konnte. Tongrim stieß sofort die Tür zu einem weiteren Zimmer auf und sagte nur: „Mach es dir ruhig bequem, ich kümmere mich kurz um ihn." Dann schloss er die Tür hinter sich und Ethan war alleine.
Er ließ die Tasche einfach liegen und nutzte die Zeit nun, um sich den Raum genauer anzusehen. In einer Ecke war eine Art kleine Kochnische, daneben ein großer Holztisch mit mehreren Stühlen daran. Das einzige weitere Möbelstück in diesem Raum war eine große, hölzerne Truhe, in der vermutlich einige Sachen aufbewahrt wurden. Vermutlich war hier nur so wenig drin, weil Levin eigentlich gar nicht wirklich hier lebte. Fast ohne ein Geräusch zu machen sprang er auf einen der Stühle, dann auf den Tisch und machte es sich dort möglichst bequem, während er auf Tongrim's Rückkehr wartete. Jetzt, wo er kurz Zeit hatte, versuchte er, mit seinem Kopf erst einmal hinterher zu kommen. Bisher hatte er nicht wirklich Zeit dafür gehabt, festzustellen, wie surreal das hier alles war. Er befand sich gerade in dem Haus eines seiner Klassenkameraden, welches sich in einer Art Parallelwelt zu befinden schien voller Fantasy-Wesen... Und er selbst war offenbar auch so ein Wesen, dadurch dass er die Kette berührt hatte und durch was auch immer waren sie hier gelandet und... Ab da gab er es endgültig auf. Er hatte das Gefühl, die ganze Welt würde sich drehen, weshalb er nur die Augen schloss. Levin würde im sicher noch alles ordentlich erklären, wenn Tongrim dafür gesorgt hatte, dass er wieder bei Bewusstsein war... 

Das Zuklappen einer Tür riss Ethan wieder aus dem Schlaf. Inzwischen kam er ein wenig besser mit seinen neuen Katzensinnen klar, wobei er es nicht mochte, schon durch so leise Geräusche aus dem Schlaf gerissen zu werden. In diesem Fall war es aber nicht schlecht. Tongrim, ein wenig erschöpft aussehend, kam wieder aus dem Zimmer heraus und setzte sich auf einen der Stühle, in dem er sich sofort zurücklehnte.
„Geht es ihm gut?" Ethan war über seinen beinahe schon besorgten Ton selbst ein wenig überrascht. Aber vermutlich war er einfach nur besorgt, weil Levin der einzige in dieser verrückten Welt hier war, den er kannte und der ihm helfen könnte, wieder zurück und normal zu werden.
„Es geht ihm den Umständen entsprechend. Ich habe alles so gut es mit seiner und meiner momentanen Kraft eben geht, geheilt. Aber es braucht ein paar Tage Ruhe, bis er sich wieder komplett erholt hat...", antwortete Tongrim und sah so aus, als würde er gleich einschlafen.
„Was genau meinst du damit, du hast ihn geheilt?" Ethan wollte die Zeit so gut wie möglich nutzen, um so viele Informationen wie nur überhaupt möglich zu bekommen.
„Hanami, schon vergessen? Ich bin einer. Wir sind sehr naturverbundene Wesen und können mit der Kraft von bestimmten Pflanzen einige schwache Zauber ausführen. Leichte Heilzauber kann ich deswegen ebenfalls durchführen, mehr oder weniger. Ich brauche dafür die natürliche Heilkraft der Person, die ich heile. Und die habe ich an ihm angewendet, in der Hoffnung, dass er bald wieder wach wird."
Endlich mal hatte jemand eine vernünftige und ordentliche Erklärung für irgendetwas hier gegeben, weshalb Ethan den Moment sofort ausnutzte, um weitere Fragen zu stellen. „Was genau ist denn dann ein Tokosu? Ihr habt euch vorhin darüber unterhalten, dass ich einer seie... Und was war das vorhin für eine Frau?"
Tongrim schien nicht unbedingt darüber begeistert zu sein, weitere Fragen beantworten zu müssen, aber er tat es trotzdem. „Ein Tokosu ist eine Art Wesen, die zur Hälfte Tier sind. Du dürftest ein Tokosu sein, der eben zur Hälfte Kater ist. Vermutlich kannst du dich irgendwie auch wieder zurück in deine menschliche Gestalt verwandeln... Und das vorhin war Mayla. Sie ist eine der Sakato, die in diesem Fluss leben und ist von allen auch die unangenehmste. Nicht nur, weil sie so verrückt nach Levin ist, sondern auch, weil sie wirklich gefährlich ist, besonders für alle männliche Wesen. Du warst ja auch komplett fasziniert von ihr gewesen."
Jetzt, wo der andere es aussprach, wurde ihm auch bewusst, warum er es im Boot nicht geschafft hatte, sich zu bewegen oder irgendetwas zu sagen. Es gehörte also zu einer Art Zauber von ihr, was auch immer eine Sakato war. Vielleicht war es eine Art...
Mitten in seinem Gedankengang wurde er durch jemanden unterbrochen, der seine unausgesprochenen Gedanken vollendete. „Es ist eine Art Meerjungfrau oder Sirene."
Sofort drehte er sich um und sah Levin, der in der Tür stand. Zwar war er jetzt bei Bewusstsein, sah aber immer noch ziemlich blass aus und klammerte sich an den Türrahmen. Und trotzdem lächelte er so breit wie sonst auch immer. 

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