...Überredungskünsten

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Die Musik war laut, aber ich wusste, dass sie im Laufe des Abends noch lauter werden würde. Bereits jetzt waren viele Leute da, aber noch lange nicht so viele, wie sich angekündigt hatten. Und nach unserem Sieg würde bestimmt die halbe Schule bald auftauchen. Zufrieden lehnte ich mich gegen die Kücheninsel, auf der die ganzen Getränke standen und nippte an meinem Becher. Dabei beobachtete ich die Leute, die unser Wohnzimmer in eine Tanzfläche umgewandelt hatten. Ich selbst stand nicht so auf tanzen. Ich war der Meinung, dass ich mit meinen ein Meter und neunzig dämlich dabei aussah. Aber ich liebte Musik im Generellen. „Jo, Noah!", kam Jack lachend auf mich zu. „Dieser Sieg war ein Traum! Wie du am Ende McGriffin fertig gemacht hast, er hatte keine Chance gegen dich! Wahnsinn!"
Ich lachte mit ihm, prostete ihm zu und trank noch einen Schluck. Ja, auf dem Eis war ich wirklich gut, gefühlt unschlagbar. Und vor allem selbstbewusst, was mir so nicht immer gelang. Der Hauptgrund dafür kam gerade zur Tür hinein und sah so umwerfend schön aus wie immer. Ich füllte meinen fast leeren Becher wieder auf und trank einen großen Schluck. Wenn ich heute mit ihr reden wollte, und das wollte ich unbedingt, dann brauchte ich deutlich mehr Mut.


Als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker geweckt wurde, damit ich pünktlich in die Schule kam, war meine Laune ganz tief unter der Erde vergraben.
Am Tag zuvor hatten wir es tatsächlich geschafft alles aufzuräumen und zu putzen, bevor meine Eltern nach Hause kamen, die über das Wochenende bei meiner Oma gewesen waren. Ab und zu durfte ich zwar eine Party schmeißen, aber ich hatte nur ein Mal den Fehler begangen, nicht pünktlich aufzuräumen. Daraufhin hatte ich eine Woche lang Hausarrest, Handyverbot und durfte auch kein Hockey spielen. Seit dem war das Haus jedes Mal blitzeblank, wenn meine Eltern wiederkamen. Jack hatte sich nach dem Aufräumen verabschiedet, da er deinen Rausch ausschlafen wollte und noch auf seine kleine Schwester aufpassen musste. Wie er das schlafend machen wollte, hatte er uns nicht beantwortet. Rhys war noch bis zum Abend bei mir gewesen. Er hatte bei mir geduscht, sich eine Jogginghose und ein Tshirt ausgeliehen und dann hatten wir Marvelfilme geguckt, ohne jedoch wirklich auf den Inhalt zu achten.
„Irgendwann musst du mir erzählen, wie du Maliah Satouh in dein Bett bekommen hast", hatte Rhys das Thema angesprochen, über das ich eigentlich wirklich nicht reden wollte.
„Ich wird es dir erzählen, sobald ich mich an alles erinnern kann", hatte ich nur zurückgegeben. „Oder willst du es selbst ausprobieren?"
„Noah, ich bin schwul, schon vergessen?"
Ich hatte nur abwesend genickt. Rhys hatte sich mit vierzehn vor Jack und mir geoutet, seine Eltern haben erst mit sechzehn davon erfahren und auch nur dadurch, als sie mal in eine sehr intime Szene zwischen Rhys und seinem damaligen Freund geplatzt waren. Jack hatte damals die These aufgestellt, dass Rhys nur ins Schwimmerteam wollte, damit er die ganzen Jungs dort auschecken konnte, was Rhys nur kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen hatte. Und ja, manchmal vergaß ich, dass Rhys schwul war, weil es mir um ehrlich zu sein ziemlich egal war, welches Geschlecht er bevorzugte. Hauptsache er war glücklich.
„Du kannst dich nicht an letzte Nacht erinnern?"
„Nein."
„Du hattest dein erstes Mal mit Maliah Satouh, dem Mädchen, in dass du seit Jahren verliebt bist, und Du kannst dich an nichts erinnern?"
Ich hatte freudlos aufgelacht und gemeint: „Ziemlich erbärmlich, oder?" Danach war das Thema zum Glück beendet. Denn Rhys hatte recht. Vor der vergangenen Nacht war ich noch nie mit einem Mädchen so intim. Ja, ich habe schon mit ein paar rumgemacht, aber ich hatte bis dahin noch nie mit einer geschlafen. Maliah war die Erste. Und ich war gleichzeitig sauer auf mich selbst, dass ich mich nicht erinnerten konnte. Wir hatten stumm weiter Filme geguckt, bis Rhys nach Hause musste.
„Du musst irgendwas unternehmen", hatte er mir noch gesagt, dann war er weg.
Diesen Rat hätte er mir nicht extra geben müssen, denn in meinem Kopf überschlugen sich schon Pläne und Gesprächssituationen, wie ich mit Maliah über diese Nacht reden konnte. Aber das würde nur geschehen, wenn ich aus meinem Bett kam. Vielleicht sollte ich doch liegen bleiben. Als meine Mutter jedoch auch noch meinen Namen rief um zu kontrollieren, dass ich wirklich wach war, schwang ich grummelnd meine Beine aus dem Bett und stapfte ins Badezimmer. Eigentlich ging ich gerne in die Schule, aber normalerweise war das Wochenende auch nicht so verkorkst. Ich sprang schnell unter die Dusche, weil ich mich irgendwie ekelig fühlte und dieses Gefühl einfach nur wegspülen wollte, was mir mehr oder weniger gelang. Dann putze ich meine Zähne, versuchte meine Haare irgendwie dazu zu bringen, nicht wie ein Vogelnest auszusehen und trug Deo auf. Dann stapfte ich weiter zu meinem Kleiderschrank, wo sich mir die Frage stellte, was ich anziehen sollte. Nicht nur Mädchen hatten dieses Problem. Zudem wollte ich mit Maliah reden, da wollte ich gut aussehen und nicht so ausgekotzt, wie ich mich fühlte. Schlussendlich entschied ich mich für eine knielange schwarze Hose, ein weißes Tshirt und meinen schwarzen Hockeypulli mit dem goldenen Phönix, unserem Schulmaskottchem, auf dem Rücken und meinem Namen quer darüber. Auf der linken Brust war der Phönix noch mal in kleiner gedruckt. Ich schnappte noch meinen Rucksack, nahm mein Handy vom Ladekabel, kontrollierte, ob ich meine Kopfhörer hatte und machte mich dann auf den Weg nach unten, wo meine Mutter schon mit dem Frühstück auf mich wartete.
„Guten Morgen", grummelte ich, nahm mir ein Croissant, schenkte mir Orangensaft ein und ließ mi h auf einen Stuhl sinken.
„Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?", fragte meine Mutter, deutlich enthusiastischer. Sie war eine Frau Mitte vierzig, von ihr hatte ich die schwarzen welligen Haare, wobei ihre bis zu den Schultern gingen. Ihre grünen Augen strahlten jedes Mal und erinnerten mich immer an eine Frühlingswiese nach dem Regen. Sie war deutlich kleiner als ich, dennoch wollte man sich nicht freiwillig mit ihr anlegen. In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie Karate gemacht, wodurch sie eine selbstsichere Ausstrahlung bekommen hatte. Meiner Mutter schien nie etwas zu entgehen und sie konnte sich immer durchsetzen. Wahrscheinlich war sie deshalb auch in ihrem Büro, einem Wirtschaftsunternehmen in dem sie die Finanzen betreute, so hoch angesehen.
„Nicht wirklich", antwortete ich ihr knapp.
„Hast du wieder zu lange Filme geguckt oder gezockt?", kam sofort die Frage, bei der klar war, dass eine Bestätigung zur Enttäuschung führen würde.
„Ne, ich habe noch gelernt." Eine kleine Lüge, aber ich wollte meiner Mutter nicht erzählen, dass ich die ganze Zeit nur an ein Mädchen denken konnte, bei dem ich sehr wahrscheinlich verkackt hatte. Meine Mutter strahlte nur, sie mochte es, dass ich so fleißig für die Schule arbeitete. Aber was blieb mir auch anderes über? Ich wollte Kinderarzt werden und wenn das mit einem Stipendium übers Hockey nichts wurde, mussten halt die Noten stimmen.
Ich hörte draußen ein Auto hupen, was mir verriet, dass Jack da war um mich abzuholen. Zum achtzehnten Geburtstag hatten seine Eltern ihm ein Auto geschenkt und seit dem fuhr er mich jeden Morgen zur Schule und Nachmittags nach Hause. Ich lieh mir ab und zu das Auto meiner Eltern, aber ein eigenes hatte ich nicht. Wofür auch, wenn man einen Jack hatte?
„Ich muss los, bis später", verabschiedete ich mich, nahm meinen Rucksack, zog mir noch meine schwarzen Vans an und verließ dann das Haus. Der Morgen versprach, dass es ein schöner sonniger Tag werden würde. Langsam machte sich der Herbst bemerkbar, aber noch reichten eine kurze Hose und ein Pulli, um warm zu bleiben. Anders sah das im kanadischen Winter aus. Ich liebte zwar die Jahreszeit, dem Schnee und alles, was damit zusammenhing, aber manchmal war es morgens so kalt, dass ich am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen bleiben würde. Allerdings war auch heute so ein Tag und der Winter war noch etwas entfernt.
Ich stieg zu Jack ins Auto, der mich kurz begrüßte und dann schweigend zur Schule fuhr. Man mochte es kaum glauben, aber der sonst so aufgedrehte Jack war wirklich kein Morgenmensch. Zumindest so lange nicht, bis er nicht seinen zweiten Kaffe getrunken hatte. Und da er immer wieder aus einem Thermosbecher trank war mir klar, dass es noch nicht so weit war. Aber das würde sich noch früh genug ändern. So lange genoss ich die Stille.
Die Stadt in der wir lebten war die perfekte Mischung aus Kleinstadt und Großstadt. Sie war nicht so klein, dass man nur zehn Geschäfte, drei Restaurants und eine Highschool hatte. Bei uns gab es ein ganzes Einkaufszentrum, eine Fußgängerzone, verschiedenste Restaurants und drei Highschools, wobei die eine davon ein privates Internat war. Die Stadt war aber auch nicht so groß, dass man nur in seiner Ecke blieb, weil alles viel zu groß und weitläufig wäre. Sie war einfach die perfekte Kombination. Ich mochte es hier, aber studieren wollte ich wo anders.
Jack hielt auf dem Parkplatz unserer Schule, der Phoenix-High. Es standen schon einige Autos hier und Schüler strömten von gefühlt allen Seiten herbei. Um auf den Schulhof zu gelangen, musste man durch ein Tor gehen, über dem die Abbildung eines Phönix angebracht war. Links und rechts vom Tor verlief ein langer Zaun, der um das ganze Schulgelände herum hing, um Schüler davon abzuhalten den Unterricht zu schwänzen, so wurde zumindest mal das Gerücht verbreitet. Das Schulgebäude selbst sah von außen ziemlich alt aus, doch innen war sie hochmodern, da sie erst vor drei Jahren komplett renoviert worden war. Auf dem Schulgeländer befand sich auch noch ein Stadion mit Laufbahn und einem Mehrzweckfeld, auf dem man Football, Fußball und Lacoste spielen konnte, eine Schwimm- und Eishockeyhalle, eine ganz normale Sporthalle und ein kleines Basketballfeld für die Pausen. Einen typischen Schulhof mit Betonboden gab es nur unmittelbar vor der Schule, ansonsten hatte man alles mit Rasen bewachsen lassen, auf dem Tische und Bänke zum entspannen und lernen standen. Mehrere Bäume spendeten im Sommer angenehmen Schatten. Jetzt waren die Wiesen voll mit buntem Laub und bald würde Schnee darauf liegen.
Wir schlängelten uns durch die Schüler und betraten das Schulgebäude. Den langen, hellen Eingangsflur entlang und dann links kam man zu den ganzen Spinden und genau diesen Gang steuerten wir jetzt an. Ich hatte alle wichtigen Sachen dabei, aber Jack fehlte noch sein Buch für Biologie, was wir gleich in den ersten beiden Stunden hatten. Am Spind, die alle in einem metallischen Blau gehalten waren, trafen wir auch auf Rhys. Die Spinde von uns dreien lagen genau nebeneinander, etwas, wofür wir einige Schüler haben bestechen mussten. Aber das Trio bleibt eben zusammen.
„Warum siehst du so wach aus?", grummelte Jack missmutig zu Rhys, während er bereits das zweite Mal die falsche Zahlenkombination eingab, fluchte, gegen den Spind haute und erneut an dem kleinen Rädchen drehte, bis ein leises Klicken zu hören war.
„Ich habe Montagmorgens doch schon Training, da bin ich danach wach, wenn ich aus dem Wasser komme", erklärte Rhys geduldig, denn diesen kleinen Vortrag hielt er nicht zum ersten Mal.
„Und vergnügt hast du dich auch noch", grummelte Jack weiter. Tatsächlich war an Rhys Hals ein Knutschfleck zu sehen, der gestern Abend eindeutig noch nicht da war.
„Mag sein", gab dieser nur gelassen zurück, sag dann mich an und fragte mit einem Nicken zu Jack: „Hatte er noch nicht seinen zweiten Kaffe?"
Jack knallte seinen Spind zu.
„Doch, hatte er. Aber stell dir vor, ich bin auch nicht immer gut gelaunt!", feixte er.
Überrascht sahen Rhys und ich ihn an. Jack hatte so gut wie nie einen schlechten Tag und wenn doch, dann spielte er höchstens die Diva, aber er ließ seine Laune nicht an uns aus, schon gar nicht an Rhys. Doch jetzt stapfte er mit zusammengezogenen Augenbrauen los in Richtung Treppe.
„Ich geh ihm mal lieber hinterher, muss eh in die Richtung. Nicht, dass er noch kleine Kinder frisst."
Rhys nickte, wirkte jedoch geistig nicht ganz anwesend. „Ja, ja mach das. Wir sehen uns dann in der Pause."
Ich nickte, drehte mich um und machte mich in die selbe Richtung auf, in die Jack verschwunden war. Ich musste drei Treppen hochlaufen, bis ich endlich vor dem Raum stand, in dem ich Unterricht haben würde. Da ich Medizin studieren wollte, hatte ich Biologie als eines meiner Leistungsfächer gewählt. Jack saß nur hier drinnen, weil er gehofft hatte, mehr über Geschlechtsverkehr erfahren zu können und so besser bei Mädchen zu landen. Woher auch immer er diesen Gedanken hatte, er hatte schnell feststellen müssen, dass Sexualkunde kein Thema mehr war, konnte den Kurs aber auch nicht mehr umwählen. Ich betrat den Klassenraum, nickte kurz dem Lehrer zu und setzte mich dann in die dritte Reihe neben Jack, der verbissen Löcher mit seinem Kugelschreiber in seinen Block bohrte.
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte ich leise nach, während ich meine eigenen Schulsachen aus dem Rucksack kramte und vor mich auf den Tisch legte. Gleichzeitig merkte ich, dass ich heute Morgen eindeutig mehr hätte essen sollen, denn mein Bauch verlangte schon wieder nach Nahrung. Aber da ich mir nichts mitgenommen hatte, musste ich wohl auf die Pause warten und dann zum Bäcker um die Ecke gehen.
„Und dir? Eigentlich müsstest du doch auf Wolke sieben schweben, schließlich hattest du Maliah im Bett. Stattdessen ziehst du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter!", zischte Jack zurück. Ich boxte ihm gegen die Schulter und sah mich um, ob uns jemand zugehört hatte. Ich wollte eindeutig vermeiden, dass die Geschichte mit Samstag in der Schule die Runde machte.
„Wege du erzählst jemandem davon! Und außerdem: Ich kann mich an nichts erinnern! Und ich will nicht, dass sich irgendwelche Gerüchte verbreiten." Niedergeschlagen Stütze ich meinen Kopf in meine Hände. „Es reicht doch so schon, dass Maliah mich nicht leiden kann. Oder nicht mit mir reden will. Schließlich war sie gestern einfach weg."
Weiter konnten wir nicht diskutieren, denn es klingelte und pünktlich wie immer begann unser Lehrer mit dem Unterricht. Keine Begrüßung, keine Nachfrage wie unser Wochenende war, einfach direkt rein in die Materie. Ich seufzte, versuchte mich zu konzentrieren und meine Gedanken weg von Maliah zu lenken. Es gelang mir nicht.

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