...chemischen Experimenten

54 4 1
                                    

Jacks Sicht

„Guck doch nicht so grimmig", bat ich ihn, obwohl mir genau so zumute war.
Rhys schnaubte nur und sah starr aus dem Fenster.
„Nach den ganzen letzten Wochen dachte ich halt, dass wir mal ein Wochenende zusammen haben. Stattdessen gehst du in die Schule."
Die letzten Wochen waren ganz sicher alles, aber nicht einfach. Und sie beinhalteten alles, nur keine Pärchenzeit.
„Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid. Aber das ist meine letzte Chance vor der Prüfung."
„Das weiß ich ja auch", seufzte Rhys und sah mich endlich an. Der Blick in seinen dunklen Augen wurde sanfter. „Wir haben uns so viel um Noah gekümmert, dass wir kaum Zeit miteinander hatten. Und jetzt kommen bald die Prüfungen und dann wird aus wenig Zeit noch weniger Zeit."
Ich griff zu ihm herüber und nahm seine Hand in meine. Sanft strich ich mit meinem Daumen über die vergleichsweise weiche Haut. Meine Hand war rau, schwielig vom Eishockeyschläger, doch Rhys Hand war so weich, als hätte man sie in Creme eingelegt. Gleichzeitig wusste ich auch, dass diese weiche, sanfte Haut auch ganz anders sein konnte. Ein Schauer überkam mich bei der Erinnerung, was er mit mir das letzte Mal im Bett angestellt hatte. Was er mich alles fühlen ließ. Gefühle, von deren Existenz nie geahnt hatte.
Es war eindeutig zu viel Zeit vergangen, dass wir wirklich allein gewesen waren.
„Ich versuche, dass ich wieder schnell da raus bin. Und dann gehen wir heute Abend essen, ok?"
„Okay."
Grinsend küsste ich meinen Freund und drückte noch mal seine Hand.
„Bis später."
„Bis später, Baby. Lass die Schule stehen", grinste Rhys und startete den Motor des Autos, während ich nur die Augen verdrehte.
Seufzend warf ich mir meine Tasche über die Schulter und ging auf das Schultor zu. Hätte mir jemand vor ein paar Wochen gesagt, dass ich mal freiwillig an einem Samstag in die Schule gehen würde, um Chemie zu lernen, denjenigen hätte ich gefragt, ob er sich zu oft den Kopf gestoßen hat. Dennoch war dieser Tag heute da. Statt zuhause mit meinem Freund im Bett zu sein oder Eishockey zu spielen, ging ich die leeren Flure der Schule entlang zum Chemiesaal. Chemie war mein schlechtestes Prüfungsfach und heute war die letzte Möglichkeit, eventuell relevante Experimente noch mal durchzuführen und Fragen zu stellen. Eine Möglichkeit, die ich mir nicht entgehen lassen wollte.
Normalerweise half Noah mir in den naturwissenschaftlichen Fächern, aber Noah war momentan dazu nicht in der Lage.
Doch bevor meine Gedanken zu meinem besten Freund schweifen konnten, kam ich im Chemiesaal an.
Nur, damit eben diese Gedanken mit voller Wucht zurück kamen.
In der ersten Reihe saß Maliah, die mich nicht weniger erschrocken ansah.
Ich starrte sie an, bis unser Lehrer mich aufforderte, mir einen Platz zu suchen. Ich setzte mich in die letzte Reihe, kramte meinen Block und einen Stift heraus und starrte dann weiter auf Maliahs Hinterkopf.
Die unschöne Trennung von Noah und Maliah war jetzt fast neun Wochen her.
Neun Wochen der absoluten Hölle. Nicht nur für Noah, auch für Rhys und mich.
Noah litt, was man allerdings nur wirklich mitbekam, wenn man ihn lange genug kannte. Für alle anderen ist er einfach nur stiller, fokussierter geworden. der typische Musterschüler, der sich in die Schularbeiten stürzte und der Eishockeyspieler, der mit ganzer Härte sein Team ins Finale der Meisterschaft führte. Aber alle übersahen wichtige Details: Er lachte kaum noch, seine Augen waren stumpf und aus Gesprächen hielt er sich meistens komplett raus.
Er konnte sich einfach nicht mehr freuen. Weder bei Siegen, noch an dem Nachmittag, auf den er eigentlich die ganze Zeit daraufhin gearbeitet hatte. Vor drei Wochen hatte unser Coach ihm zwei verschiedene Trikots präsentiert, mit jeweils zwei fetten Umschlägen: Das eine Trikot war von der University of Alberta, das andere Trikot von der University of Toronto. Zwei Top-Universitäten, die Noah ein Vollstipendium anboten. Doch während das ganze Team vor Freude ausgerastet ist, hatte Noah nur genickt, gesagt, er überlege es sich und hatte sich dann umgezogen. Ob er sich bereits entschieden hatte, wusste ich nicht.
Ich hatte ein Mal mitbekommen, wie sich zwei Mädchen über ihn unterhielten. Die eine hatte davon geschwärmt, wie geheimnisvoll, dunkel und verschlossen Noah doch wirkte. Die andere hatte gesagt, dass er eher arrogant und abweisend wirkte. Daraufhin kam der Satz, dass man ihn doch bestimmt ändern könnte.
Ich hatte nur den Kopf geschüttelt und war weitergegangen. Ich konnte verstehen, was diese beiden Mädchen meinten, denn genau so war Noah momentan. Doch das Mädchen, dass ihn wieder ändern könnte, hatte ihm das Herz gebrochen. Egal, wie kalt und abwesend Noah wirkte, innerlich war er zerbrochen und hilflos und suchte nach Schutz. Mehr als nur eine Nacht hatte ich bei ihm verbracht, als er Panikattacken und Angstzustände durchlitt.
Maliah hatte etwas in ihm ausgelöst, dass sich keiner hätte vorstellen können.
Das schlimmste dabei: Ihr schien es gut zu gehen. Man sah sie immer mit ihren Freundinnen lachen, Gerüchte besagten, dass sie mit einem Typen aus dem Fußballspiel auf Dates war und wieder andere behaupteten, dass Maliah nur für eine Wette mit Noah zusammen war. Um den „Eiskönig" aufzutauen. Doch egal wen man fragte, nie war Maliah die Schuldige bei der Trennung. Es war immer Noah. Noah, der angeblich mit Cherry etwas am laufen hatte. Und Cherry, die sich in irgendein Loch verkrümelt und seit einigen Wochen nicht mehr gesehen wurde. Manche glaubten, dass sie schwanger sei.
Von Noah.
Denn er hatte ja Maliah mit ihr betrogen.
Ich war so in meinen Gedanken an die letzten Wochen vertieft, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie unser Lehrer uns in Laborteams aufgeteilt hatte. Und als mein Blick dann auf die Person fiel, auf die er ungeduldig deutete, hätte ich lauthals fluchen wollen.
Wäre ich doch bloß mit Rhys im Bett geblieben.
Dann hätte ich ihn den ganzen Tag nackt sehen können.
Stattdessen stand ich jetzt auf, nahm meine Sachen mit und ließ mich wortlos neben meine Laborpartnerin nieder. Das Schicksal wollte mich doch wirklich verarschen. Würde ich diese Übung nicht wirklich dringend brauchen, wäre ich jetzt zur Tür rausspaziert.
Starr sah ich an die Tafel, an der unser Lehrer die Titration erklärte, die wir im Anschluss durchführen sollten, um bloß keinen gehässigen Kommentar von mir zu geben.
Das geflüsterte „Hallo Jack", ignorierte ich ebenfalls.
Ich sprach auch nicht mit ihr, als es daran ging, den Versuch zu starten, die Materialien zu suchen und das ganze Zeug aufzubauen. Was mir tatsächlich bei der Konzentration half und mich so weit brachte, dass ich die erste Rechnung fast mühelos aufstellen und lösen konnte.
Vielleicht war ich ja doch nicht so dumm, wie ich dachte.
„Wirst du mich jetzt die ganze Zeit anschweigen?", kam es irgendwann genervt. „Ich dachte, wir haben uns immer gut verstanden."
Ja, das hatten wir.
„Warst du beim Fiseur? Deine Haare sehen anders aus."
War ich tatsächlich. Aber anstatt wie immer die Seiten ganz kurz und oben relativ lang zu lassen, dass die noch in so einen kleinen Zopf passten, hatte ich oben auch etwas kürzer geschnitten. Jetzt musste ich neu lernen, mit Haarwachs umzugehen, damit meine Frisur keine vollkommene Katastrophe war, aber ich mochte es. Und Rhys gefiel es auch. Auch wenn er meinen Zopf aus anderen Gründen manchmal vermisste.
Aber leider, obwohl ich ihr nach wie vor nicht antwortete, hielt sie nicht die Klappe. Fest biss ich meinen Kiefer zusammen, damit auch wirklich kein Wort über meine Lippen kam.
„Wie gehts ihm?", kam es leise.
Eine simple Frage, auf die es eine simple Antwort gab, aber verdammt...
„Das geht dich einen feuchten Dreck an", knurrte ich und funkelte sie wütend an.
Maliah blickte erschrocken zurück. Aber was hatte sie auch erwartet? Dass ich ihr jetzt fröhlich davon erzählen würde, wie beschissen es meinem besten Freund geht? Ihretwegen?
Niemals!
„Icch habe nur schon länger nicht mit ihm gesprochen...oder ihn wirklich gesehen, da wollte ich...also ich wollte nur kurz nachfragen", stotterte sie.
„Du hättest ihn bei den Spielen sehen können. Aber warum sollte er mit dir reden wollen?", giftete ich zurück, während ich gleichzeitig versuchte, die Säure, die wir für den Versuch brauchten, nicht über den kompletten Tisch, sondern wirklich nur in das Gefäß zu schütten. Ein paar Tropfen gingen daneben. Schnell wischte ich sie auf. Die Säure war zwar nicht hochgradig ätzend, aber reinpacken wollte ich trotzdem nicht.
Maliah stand nur starr neben mir und schluckte heftig.
„Also geht es ihm gut?"
Ich lachte humorlos auf. „Das habe ich nicht gesagt oder?"
Schnell notierte ich mir das Zwischenergebnis auf meinem Block.
„Warum interessierst du dich plötzlich für Noah? Das hast du doch die ganze Zeit nicht."
„Das ist nicht wahr! Ich habe mich immer für ihn interessiert und tue es immer noch."
„Lüge."
Komm schon, Jack, jetzt nicht mit der Gegenlösung verkacken. Dann könnte das ein wirklich gutes Ergebnis werden und deine Abschlussnote vielleicht etwas retten.
„Das ist keine Lüge. Warum sollte ich lügen, wenn ich eine Person liebe?"
Fassungslos sah ich sie an. Das Glas mit der Gegenlösung rutschte mir aus der Hand, fiel auf den Boden und zersprang in tausende kleine Scherben. Doch das nahm ich nur am Rande wahr. Genau so, wie die Schimpftirade, die mein Lehrer losließ.
Stattdessen packte ich Maliah ziemlich unsanft am Arm und zerrte sie wortwörtlich hinter mir aus dem Raum und den Gang entlang.
„Jack, was soll das? Lass mich los! Du tust mir weh!", zeterte Maliah, während sie versuchte sich gegen mich zu stämmen.
Aufgebracht zog ich sie so herum, dass sie mit dem Rücken zur Wand vor mir stand.
„Wie dreist kann man eigentlich sein?", zischte ich. „Du fragst allen ernstes nach, wie es deinem Exfreund geht. Dabei ist es so offensichtlich! Hättest du Augen im Kopf, würdest du ihn wirklich kennen, dann wüsstest du, wie sehr er leidet. Deinetwegen! Und dann besitzt du auch noch die Eier mir ins Gesicht zu sagen, dass du ihn liebst? Wen willst du hier eigentlich verarschen? Würdest du ihn wirklich lieben, nein falsch: hättest du ihn jemals wirklich geliebt, dann hättest du nicht mit ihm Schluss gemacht! Dann hättest du ihm nicht diese ganzen ekelhaften Sachen vorgeworfen. Dann hättest du für eure Beziehung gekämpft, so wie er es immer und immer wieder getan hat. Also erzähl mir hier keine Lügen. Vielleicht warst du in Noah verliebt, aber du hast ihn niemals geliebt."
Tief Luft holend trat ich einen Schritt zurück und fuhr mir durch die Haare.
Es sollte doch eigentlich ein relativ entspannter Samstag werden. Wie ist das jetzt so hochgekocht?
„Bitte glaub mir Jack: Ich liebe Noah."
Maliah rollten Tränen über die Wangen.
„Davon hat man während eurer Beziehung aber nicht viel mitbekommen."
Sie zuckte zusammen, offensichtlich wirklich verletzt. Aber das war mir egal. Noah war auch verletzt.
„Du warst nur ein Mal oder so bei seinen Spielen. Weißt du, wie viel ihm das bedeutet hätte, wenn du häufiger da gewesen wärst? Aber er hat nie etwas gesagt, weil er dich nicht zusätzlich stressen wollte. Er hat es in kauf genommen, dich zu verlieren und dich bei deinem Wunsch, in den verdammten USA zu studieren noch unterstützt. Er hat sich komplett hinten angestellt. Nur, damit du glücklich wirst. Er ist mit dir nach Montreal gefahren, nur um für einen dummen Ball ein Kleid mit dir zu kaufen. Dabei wusste er noch nicht mal, ob du auch wirklich mit ihm hingehen würdest. Und wärst du mit einem anderen Typen zu diesem Ball gegangen, hätte es ihm zwar das Herz gebrochen, aber er hätte sich auch für dich und dein Glück gefreut. Verdammt, er hat dir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Und was machst du? Jedes Mal? Lässt dich von deiner dummen Freundin beeinflussen und machst auf übelste mit ihm Schluss."
Ich atmete tief durch, sprach aber sofort weiter. Alles, was mich, Noah, uns die letzten Wochen belastet hatte, musste einfach raus.
„Du hast gefragt, wie es ihm geht. Willst du das wirklich wissen? Du hast in zerbrochen. Du hast ihm das Herz heraus gerissen und dann in Millionen kleine Stücke zerrissen. Weißt du, wie viel Arbeit und Mühe Rhys und ich die letzten Wochen darauf verwendet haben, nur ein hundertstel davon wieder zu reparieren? Er spricht kaum, er lacht kaum. Er lernt nur wie verrückt und schlägt beim Eishockey Köpfe ein. Und weißt du, warum es ihm so schwer fällt diese Trennung zu verarbeiten? Das muss er mir nicht extra sagen: Weil er dich immer noch aus tiefsten Herzen liebt und einfach nicht wahrhaben will, dass du ihm so etwas antuen konntest.
Deshalb entschuldige bitte, wenn ich dir dein Liebesgeständnis nicht abkaufe.
Würdest du ihn lieben, wäre es gar nicht erst so weit gekommen.
Würdest du ihn lieben, hättest du dich nie so aufgeführt.
Würdest du ihn lieben, würdest du alles daran setzen, diese Beziehung zu retten. Wenn es denn etwas zu retten gibt.
Aber du würdest nicht erst jetzt nach ihm fragen. Nicht erst jetzt damit anfangen. Du hättest sofort damit anfangen sollen."
Das wars. Ich hatte alles gesagt.
Maliah sah mich geschockt und traurig an. Tränen liefen ihr in kleinen Bächen über die Wangen. Irgendwo tat sie mir auch leid, doch den Gedanken verdrängte ich ganz schnell wieder.
Wortlos drehte ich mich um und ging zurück zum Chemiesaal.
„Jack...", hielt mich ihre Stimme auf halber Strecke schluchzend auf. „Es...es t-tut mir leid."
Ich drehte mich zu ihr um.
„Das musst du nicht mir, sondern ihm sagen. Und ich würde es ihm schnell sagen."

Maliah kam nicht noch mal in den Chemiesaal. Die restlichen Experimente machte ich alleine und hatte am Ende der vier Stunden tatsächlich fast alles richtig und verstanden.
Erschöpft räumte ich alle Sachen weg, packte meine Tasche und floh beinahe aus dem Schulgebäude. Draußen wurde es allmählich wärmer und es war zu merken, dass der Frühling anstand.
Tief atmete ich die frische Luft ein, versuchte damit meine Kopfschmerzen, die sich seit dem Gespräch mit Maliah eingenistet hatten, zu bekämpfen.
Am Wochenende war unser allerletztes Spiel.
Danach die drei Wochen kamen dann die Prüfungen.
In fünf Wochen war unser offizieller Abschied und danach...
Danach begann das Leben.
Meine Stimmung hob sich etwas, als ich Rhys angelehnt an sein Auto stehen sah.
Ein ruhiger restlicher Nachmittag, etwas zu essen und mein Freund. Das klang doch nach einem genialen Plan.
Ich beschleunigte meine Schritte, um diesen Plan so schnell wie möglich umzusetzen.

————-
Hallihallo. Wie geht es euch?
Ich hoffe, euch hat ein Kapitel aus Jacks Sicht gefallen. Meint ihr, er war zu hart mit Maliah? Oder hättet ihr genau so gehandelt?
Tatsächlich kommen nur noch 2-3 Kapitel, dann ist diese Geschichte vorbei.
Würdet ihr euch das nächste Kapitel eher aus Maliahs oder wieder Noahs Sicht wünschen?
Danke fürs Lesen, über einen Kommentar oder ein Sternchen würde ich mich sehr freuen :)
Bis Bald!

Alles begann mit...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt