Kapitel 16 - Verlorene Seelen

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Timotheé Marchand

Timotheé starrte mittlerweile schon eine ganze Weile auf das trübe Fensterglas von dessen Rändern der Regen hinab tropfte, der durch die Fassung hinein quoll. Auch seine Haare waren mittlerweile feucht von dem Gemäuer in dem er nun schon eine ganze Weile kauerte. Der Odeur seiner Kleider war für seine Nase fast unerträglich. Er hatte sich schon seiner Jacke entledigt und war nur noch in seinem blutbesudelten Hemd bekleidet. Die ominöse Fremde hatte ihm doch zugesichert, dass sie wiederkommen würde. Konnte Timotheé ihr denn vertrauen? Zumindest hatte er sich in ihrer Nähe wohl gefühlt und sie wusste mehr über seinen Zustand, als er bisher herausfinden konnte. Und wenn er eines suchte waren es Antworten. Noch nie hatte Timotheé sich so hilflos gefühlt. Auch nicht, als seine Brüder ihn einen ganzen Tag lang auf dem Dachboden ihres Hauses eingeschlossen hatten. In aussichtslosen Momenten wie diesen, sehnte Timotheé sich sehr nach der Normandie. Nach einem guten Rotwein, während er der Sonne zusah, wie sie den Horizont in ein tiefes Orange färbte. Er vermisste Frankreich. Das Heimweh hatte ihn in letzter Zeit öfters gepackt. Aber war ihm das zu verübeln? Er hatte sich schon immer als Fremdling gefühlt. Wie oft hatte man ihm vor die Füße gespuckt, wenn man seinen französischen Akzent vernommen hatte. Und dabei hatte er alles daran gesetzt Englisch gut zu lernen und sich gewählt auszudrücken. Doch er war Franzose - Dies war sein Freiticket für den Fremdenhass der Briten. Vor allem die Dockarbeiter hatten sich lustig über ihn gemacht und dabei war Timotheé immer ein äußerst fähiger Kaufmann gewesen. Er verrichtete ehrliche Arbeit und versuchte sich den Regeln Englands zu beugen. Vergebens, denn sobald er den Mund aufmachte nannte man ihn einen "Franzmann", oder beschimpfte ihn andersartig. Der junge Marchand sah auf die gegenüberliegende Wand, welche ein großer feuchter Fleck zierte. Kein Wunder, dass man dieses Gebäude aufgegeben hatte. Nicht nur, dass Feuchtigkeit hinein kroch, aber es war auch baufällig. Man hatte wahrscheinlich gefürchtet, dass es nur einen leichten Sturm geben müsste und das Wohnhaus wäre umgepustet worden. Soweit Timotheé sich entsinnen konnte war auch ein Teil des Daches bereits eingestürzt. Aber ihm gefiel diese Unterkunft besser, als die Kanalisation. Sein eigentlicher Geburtsort. Das war so bitter und unwirklich, dass Timotheé selbst darüber lachen musste. Ausgerechnet an diesem Ort musste er erwachen, um festzustellen, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Er hatte so sehr das Bedürfnis zu baden und den Dreck der Straße von seiner Haut zu waschen. Zudem wollte er so gerne essen. Die letzten Tage hatte er sich nur von Ratten ernährt und das Gemäuer nicht verlassen. Aus Angst, er könnte den Menschen zu gefährlich werden. War er also dazu verflucht für immer sein Dasein in feuchten Gemäuern zu verbringen? Er fixierte den Wasserfleck an der Wand erneut und versuchte sich daran zu erinnern, wie ein guter Rotwein schmeckte. Wie lange war es nun schon her, dass er von einer feinen Traube gekostet hatte? Timotheé wusste es nicht. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Seine Zunge schien mittlerweile taub für jegliche menschliche Geschmäcker. Das einzige, woran er dachte war gottverdammtes Blut. Es quälte ihn zu wissen, dass er mit nichts anderem seinen Hunger stillen könnte. Früher hatte Timotheé den Geschmack und den Anblick von Blut verabscheut. Er konnte sich noch gut an die Geburt seines jüngsten Bruders erinnern, als eine Hebamme zu seiner Mutter geeilt war und ihn geholt hatte. Das ganze Haus hatte nach Eisen gerochen. Als sie dann alle kommen durften, um seinen Bruder zu bestaunen, hatte er sich bei dem Anblick der blutigen Laken und diesem schrecklichen Geruch fast übergeben. Sein ganzes Gesicht war grün geworden und dafür bekam er von seinem älteren Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf. Und zwar keinen sanften. Timotheé konnte nicht behaupten, dass das gegen seine Übelkeit geholfen hatte. Ihm war nur noch schwindeliger geworden und am liebsten hätte er das blutige Schlafzimmer wieder verlassen und dabei die Augen zugekniffen, um den blutgetränkten Stoff nicht zu betrachten. Und jetzt? Nun war er ausgerechnet von dem Lebenssaft abhängig. Eine Ironie des Schicksals.

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