Kapitel 6 - Auferstehung

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Timothée Marchand

Ja, unsterblich sein - Das klang in all den Büchern, die Timothée verschlungen hatte, unfassbar verlockend. Doch jetzt, wo er sich selbst damit konfrontiert sah, empfand er es als unendliche Folter. Eine Ewigkeit schien es her zu sein, als er sich noch Schachduelle mit seinem Bruder Gaston lieferte, oder er Limonade in der Stube mit seiner Mutter getrunken hatte. Nun hockte er im Untergrund. Allein und abgeschottet von der Zivilisation. Der junge Marchand fürchtete sich vor seinem eigenen Selbst. Er hatte nicht einmal den Mut und die Kontrolle aufbringen können, um seine Familie zu sehen. In seiner Vorstellung hörte er seine Mutter wehklagen. Die Anderen kümmerte sein Verschwinden natürlich nicht. Sein Vater hatte ihn immer einen weich gespülten Waschlappen genannt. Im Gegensatz zu seinen Brüdern, die sogar alsbald eine Vermählung in Betracht zogen, war Timothée noch nicht daran interessiert den Bund der Ehe einzugehen. Ein weiterer Grund für seinen alten Herren ihn zu verspotten und zu missachten. Wobei Timmy beschloss, dass das immerhin besser war, als von ihm mit der Reitgerte verprügelt zu werden. Und dafür benötigte sein Vater nicht einmal einen richtigen Grund. Meistens nur ein paar Schlücke teuren Whiskys und eine lose Hand. Anders als andere Jungen in seinem Alter zog sich der jüngste Marchand die Veilchen in seinem Gesicht eben nicht auf der Straße zu, sondern in seinen eigenen vier Wänden. Seine Mutter hatte er diesbezüglich belogen. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machte oder gar in das Visier seines Vaters geriet. Timothée hatte sich oft gefragt, was seinen Vater dazu veranlasst hatte, ihn so zu hassen. Ihm so mit Missgunst zu begegnen, dass er fast einmal das Leben aus Timothée prügelte. War er solch eine Enttäuschung von Sohn?

Und dabei war Timothée gebildet, hatte ein gutes Handelgeschick, sprach fließend die Landessprache seines Vaters, folgte den Umgangsformen und war nicht solch ein Draufgänger wie Philippe. Nun, vielleicht lag es ja auch daran? Sein Vater wünschte sich vielleicht einen weiteren Sohn, der einen Konflikt suchte, wie ein Stier, der seine Hörner noch nicht abgestoßen hatte. Aber Timothée war kein Mann der Konfrontation, zumindest wenn es um einen Kampf ging. Er war immer diplomatischer veranlagt gewesen, als seine älteren Brüder. Schließlich erreichte man mit Worten manchmal mehr, als mit stumpfer Gewalt. Diese Ansicht brachte seinen Vater wohl jedoch dazu ihn als verweichlicht zu beschreiben. Und nur, weil er noch keine Weibergeschichten zu erzählen hatte, hatte sein Vater ihm bereits unterstellt er sei eine Schwuchtel. Auch das stimmte nicht. Aber bei seinem Vater Gehör zu finden, schien für den jüngsten Spross der Handelsfamilie Marchand unmöglich.

Und nun saß Timmy allein und verlassen auf nassem Stein, während er über seine Erinnerungen grübelte. Darüber und über das Feuer in der Kanalisation. Wer war dieser Mann gewesen, den er gesehen hatte? Was hatte er dort an den Docks gewollt? Hatte er vielleicht auch über diese Wesen Bescheid gewusst? Oder war es nur Zufall gewesen, dass Timothée ihn dort gesehen hatte?

Der neugeborene Vampir entschied sich, dass es nichts brachte sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wenn er doch keine Antworten auf seine Fragen erlangen würde. Er fristete ein klägliches, sinnloses Dasein. Ein solches was sein Vater immer in ihm gesehen hatte. Zum ersten Mal fühlte Timothée sich so, als hätte er die Prügelstrafe wirklich verdient. Er hatte getötet. Und dies war eine unwiderrufliche Tatsache, die ihm durch Mark und Bein ging. Und dies war auch der Grund dafür, dass er sich in dem Untergrund Londons verschanzt hatte. Timothée hatte niemandem weh tun wollen und nun hatte er etwas weitaus Schlimmeres angerichtet als das. Aber er konnte nicht leugnen, dass sein Hals und seine Eingeweide vor Hunger brannten. Doch er wollte der Versuchung nicht nachgeben, er wollte nicht schon wieder zum Mörder werden. Das Gefühl des absoluten Kontrollverlustes war ihm bereits durch die Glieder gefahren als er seine Zähne in den Officer gerammt hatte und es war absolut grauenvoll gewesen. Nie hatte er sich so machtlos und hilflos gefühlt, wie in dem Moment danach, als seine Lippen von dem Blut eines Fremden benetzt gewesen waren.

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