Kapitel 2 - Eine verhängnisvolle Nacht

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Jocelyn Clearwater

Die Vampirin sah verliebt zu ihrer linken. Ihr Kopf ruhte auf ihrem Unterarm und sie hätte die schlafende Schönheit vor sich die gesamte Zeit betrachten können. Richards Augenlider waren noch geschlossen und seine marmorne Brust lag frei, da das Satinlaken verrutscht war. Triumphierend betrachtete Jocelyn noch die Bisse an seinem Hals wie an seinen Unterarmen und musste sich ein Kichern verkneifen. Wieso eigentlich war alles was sie mit Richard tat so außerordentlich hingebungsvoll? Wieso wusste er immer, wann genau sie ihn brauchte und wie sehr sie sich nach ihm verzehrte? Und bei Gott - wenn sie diesen Ausdruck auch immer mit einem sarkastischen Unterton gebrauchte - gestern Nacht war sie so froh gewesen, als sie endlich in seinen starken Armen lag. Jocelyn hatte noch nie das Gefühl gehabt jemanden mit Haut und Haaren auffressen zu wollen. Lediglich wenn sie ihrer Natur verfiel überkam der allesverzehrende Hunger sie, wie eine Welle einen Ertrinkenden. Aber dieses Gefühl war anders, als das was in ihrem Herzen wohnte, wenn sie Rich so ansah. In all den Jahren der Unsterblichkeit war er immer ein Teil von ihr gewesen und hatte sie niemals allein gelassen. Die Menschen gebrauchten den Ausdruck Seelenverwandter und Jocelyn fand, dass diese Bezeichnung durchaus zutreffend war.

Ihn so beim Schlafen zu beobachten beruhigte sie zutiefst. Vor allem nach der leidenschaftlichen Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Dieser Mann war wie ein Gemälde für die Vampirin und zu gerne hätte sie seine Schönheit jetzt gerade in diesem Moment eingefangen. Aber sie war bei weitem kein großer Künstler, anders als Richard selbst. Der Vampir besaß eine außerordentliche Begabung was die Künste anbelangte, dass Jocelyn sich manchmal besinnen musste, dass er damals die Axt geschwungen und Christen enhauptet hatte. Natürlich war sein Kriegernaturell nicht mit seiner Verwandlung verloren gegangen. Vielleicht hatte es sich sogar noch manifestiert? Eine Frage, die sie sich selbst nicht beantworten konnte, da sie Richard niemals in seiner menschlichen Gestalt angetroffen hatte. Über diesen Gedanken musste sie lachen. Wäre er ein Mensch geblieben, wäre er schon lange zu Staub zerfallen, sein Name vergessen und sein Grab verschollen. Seine Gebeine wären dort gelandet, wo er auch geboren worden war: Norwegen.

Nein, das Schicksal hatte sie zusammen gebracht. Das Schicksal in Form von Bradley und Ezekiel. Aber dieser Biss, der Fluch der Nacht hatte auch seinen Preis. Einen so hohen Preis, dass Jocelyn sich fast die Zunge zerbiss wenn sie zu lange daran dachte. Sie merkte gar nicht, wie sie plötzlich begang die Laken in ihren Händen zu zerknüllen. Doch statt der unfassbaren Wut, die sie sonst verspürte, überkam sie ein gewaltiges Gefühl der Trauer.

"Du bist aufgewühlt", hörte sie eine müde Stimme neben sich sagen, was sie dazu veranlasste ihren Kopf in Richards Richtung zu drehen, der immer noch die Augen geschlossen hielt und lediglich seinen stämmigen, muskulösen Körper reckte.
"Oder hast du noch nicht genug?", raunte er noch müde hinterher und legte seine linke Hand auf seine Stirn, in der einige seiner kastanienbraunen Locken gefallen waren. Kurzzeitig beobachtete die Frau wie sein breiter Kiefer sich regte unter seiner Bewegung.
Seine perfekt geformten Lippen waren für einen kurzen Moment aufeinander gepresst, bevor er leise seufzte.

"Von dir kann ich nie genug bekommen, Richie", erwiderte Jocelyn mit einem leisen Lächeln und streckte ihre Hand nach Richards rechten aus. Als ihre kalten Finger die Handfläche ihres Liebsten berührten, schloss dieser seine Hand sofort zu einer Faust zusammen. Mit einem Male schlug er seine Augen auf und drehte seinen Kopf in ihre Richtung, wobei sie genau die Muskeln an seinem Hals erkennen konnte, die sich anspannten.
"Du weißt, dass du mit mir reden kannst, mein Herz", sprach er und strich ihr liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Dame jedoch wagte es nicht den Blickkontakt zu erwidern, sondern sie starrte nur an die gegenüberliegende Wand dessen grüne Farbe abblätterte. Lediglich ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen lehnte auf dem Boden gelagert, an eben jener und sonst war Richards Zimmer kahl. Auch wenn er selbst gerne malte, sein eigenes Schlafgemach hielt er karg und leer. Aber Jocelyn fand, dass es zu ihm passte. Er war kein eitler Mensch und empfand nicht viel Freude an Wanddekorationen. Sie gab der kurzen Gesprächspause noch ein wenig mehr Raum, bevor sie die Schultern sinken ließ und an ihrer Unterlippe nagte.

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