In diesem Moment fühlte ich mich gleichzeitig wie der Erbe der de Chimicos und wie ein hilfloser Junge, der zum ersten Mal die große Welt gesehen hatte und sich seiner Kleinheit und Unbedeutenheit bewusst geworden war. Azads Anwesenheit brachte mehr in mir durcheinander als ich für möglich gehalten hatte und doch war ich mir gleichzeitig der großen Last bewusst, die auf meinen Schultern schwebte.
Das hier war mein Krieg und nicht seiner. Ich war ein Teil der Elite. Auch wenn er nun scheinbar dem niederen Adel dank seines Vaters angehörte, so würde er im Herzen immer ein Rebell bleiben. Er gehörte nicht an diesen Ort, nicht in dieses Leben. Und noch weniger gab es die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft für uns. Gefühle bedeuteten Schwäche und diese Schwäche durften wir uns im Moment beide nicht leisten.
Die Aufgabe das Land in den Abgrund zu stürzen, zu zerstückeln und danach neu aufzubauen war keine Sache, die man innerhalb von Sekunden erledigen konnte, auch wenn ich einst so naiv gewesen war dies zu glauben. Es würde Jahre brauchen und wahrscheinlich sogar mein gesamtes Leben, wenn ich denn erfolgreich sein sollte. Wenn nicht... nun, dann gab es erst recht keine gemeinsame Zukunft.
Ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr der Lucien- der Luchs- den er kennengelernt hatte. Und er würde enttäuscht sein, wenn er es feststellen würde. Wäre ich damals schon so bereit gewesen über Leichen zu gehen, wie ich es mittlerweile war? Nur die Leiche meines Vaters, die bereitete mir noch immer Probleme. Und genau das war das Problem. Ich war noch zu weich, zu warm für die Aufgabe, die vor mir lag. Und Azad würde dafür sorgen, dass das auch so bleiben würde. Ich durfte Azad nicht in meinem Leben haben. Ich musste zu einer besseren Version meines Vaters werden- kalt und durchsetzungsvermögend, aber dennoch mit der nötigen Gütte um etwas in diesem Land zu verändern. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen konnte, aber einen Versuch war es wert.
Wie könnte ich jetzt zu meinem Löwen zurückkommen, wenn ich doch all das wusste? Auch, weil ich kein näheres Verhältnis zu ihm pflegen durfte. Ich war Iavils Verlobter und als dieser musste ich mich auch geben. Wir mussten als ein starkes Paar auftreten, um das Land unter unserer Herrschaft zu vereinen. Affären würden mich schwach erscheinen und die Leute an uns zweifeln lassen.
Während meine Gedanken rasten, blieb ich nach außen hin vollkommen gelassen. Ich durfte nicht aus meiner Rolle fallen. Auch wenn mir das wohl weniger schwer fiel als es wünschenswert war. Ich war nun mal der Erbe der de Chimicos und ich war mein ganzes Leben darauf vorbereitet worden. Es steckte mir im Blut. Es war keine Rolle- es war einfach nur ich. Ich war kalt und grausam und ein Herrscher, der keinen Widerspruch duldete. Nur ein winziger Teil meines Herzens war es nicht. Und diesen Teil musste ich verborgen halten. Azad hatte ihn einmal gesehen- in der Zeit, die ich mit ihm verbracht hatte- ich würde dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschah.
Es war für uns beide besser, wenn er mich losließ und aufhörte mich zu lieben. Denn genau das glaubte ich immer noch in seinem Blick erkennen zu können, so sehr er es auch zu verbergen versuchte. Ich hoffte, dass ich besser darin war. Ich hoffte, dass ich meine Rolle, die mein Leben mir vorgeschrieben hatte, besser spielen konnte. Dass ich diesen Funken in mir verbergen und in Schach halten konnte.
Ich war der Erbe der de Chimicos. Nicht mehr, nicht weniger.
Bellator Mesri trat auf mich zu und leistete seinen Schwur. Ich war es leid einem weiteren Mann die Hand halten zu müssen. Wie viele Hände hatten heute schon die meine berührt, jedes Mal mit anderen Absichten. Die einen wollten sich bei mir einschmeicheln, weil sie sich zukünftige Vorteile davon erhofften, die anderen wollten den Schein wahren, obwohl doch ihr Hass gegenüber mir oder meiner Familie offen in ihren Augen brodelte. Bei den weiblichen Personen war dagegen öfters etwas anderes durchgeblitzt. Die Ehefrauen hatten sich erhofft eine gute Partie für ihre Tochter zu bekommen, trotz der Verkündung meines Vaters, dass ich eine Verlobte hatte. Die Töchter erhofften sich etwas Abenteuer, eine Romanze oder Macht von mir. Letztlich war es immer gleich: Sie leisteten den Schwur, weil sie sich davon etwas erhofften. Weil sie sich von mir etwas erhofften. Keiner tat es, weil er an mich und meine Fähigkeiten glaubte.

DU LIEST GERADE
Lynx&Lion - The Elite
Teen FictionBand 2 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Lucien und Azad verfolgen immer noch den selben Plan: Den Sturz der Elite. Doch sie stehen nun auf unterschiedlichen Seiten. Während Lucien die Rebellion verlassen hat und zur Elite zurückgekehrt...