Lucien hatte sich verändert. Zumindest wirkte er so. Musste so wirken. Vermutlich wäre es ein Fehler, wenn er sich nicht wie sein Vater benahm. Dennoch. Es war erschreckend ihn so zu sehen. Ihn als den Erbe vom Haus de Chimico zu sehen. Er schien eher wie ein Feind als ein Freund. Ich konnte wirklich nur hoffen, dass diese Version ebenso eine Rolle war wie Azail.
"Es gibt eine persönliche Audienz", fragte ich Xander flüsternd, als Lucien dies erwähnt hatte und wir schon langsam den Raum verließen.
"Ja, jede Familie die hier anwesend ist bekommt eine Chance mit dem, neuen Erben zu reden und diesem gleichzeitig seine Treue zu schwören." Xander blickte sich kurz um und zog mich etwas weiter von den beiden anderen Herren weg, damit sie uns nicht hören können. Es wäre vermutlich zu auffällig gewesen, wären diese nicht schon wieder in einer Diskussion über mögliche Veränderungen im Land nach der Übernahme durch Lucien, vertieft. "Offiziell dürften sich die Mitglieder der jeweiligen Familie frei aussuchen ob sie diese Treue schwören wollen. Es ist offiziell nicht unhöflich, sondern heißt oft nur, dass sie die Führungsqualitäten des neuen Erben erst sehen möchten, oder sie einfach nicht der Meinung sind, dass dieser Erbe für den Posten geeignet ist. Aber weil Korolus die Elite so stark in der Hand hat, könnte das verwehren der Treue durchaus gefährlich für sie werden. Sie müssen es machen, aber ob sie sich wirklich dran halten hängt vom Verhalten des Erbens ab. Es wird vermutlich nicht wenige geben, die ihm nicht ihre Treue schwören würden, wäre sein Vater nicht so, wie er ist."
"Man kann also durchaus sagen, dass Korolus nicht nur die Unterschicht unterdrückt?"
"Können schon, aber man sollte es nur dann, wenn man keine Angst vor einer Festnahme hat. Erwähne eine solche Sicht niemals vor jemanden den du nicht gut genug kennst um dessen Einstellung zu kennen. Viele sind loyal Korolus gegenüber und sie werden dich ohne zögern verraten."
Ich nickte und trat zu Bellator und seinem Bekannten zurück.
"Ich wage es zu bezeifeln, dass dieser Lucien ein so guter Anführer wie sein Vater sein wird", sprach sich van Fiore aus, hatte seine Stimme dabei gesenkt," er scheint viel zu idealistisch für sein Wohl zu sein. Der Weg den sein Vater bisher eingeschlagen hat, ist ein guter Weg, der unser Land in ein goldenes Zeitalter geleitet hat. Eine Revolution von Oben, oder was auch immer Lucien zu planen scheint, ist das letzte was dieses Land braucht."
Er schien die Unterschicht gar nicht zu bedenken. Als gäbe es unser Leid gar nicht.
"Wir können noch nicht wissen, was Lucien in seiner kommenden Amtszeit erreichen will, aber ein ganz beträchtlicher Teil der Bevölkerung leidet unter unserem momentanen Regime," gab ich zu bedenken. Ich musste es einfach erwähnen. Momentan war ich Teil der Elite, dann konnte ich doch zumindest jemand sein, den mein Altes ich nicht komplett verachtete. Vielleicht hatte ich die Möglichkeit zumindest etwas zu verändern.
Xander blickte mich finster an. Es war letzten Endes genau das, was ich nicht machen sollte.
"Der Unterschicht geht es gut genug. Wir regieren dieses Land, also haben wir uns unseren Luxus verdient. Die Unterschicht hat andere Aufgaben und sollte mit dem was sie hat auch zufrieden sein. Sie werden doch schließlich nicht vergessen haben, dass unsere Vorfahren in einer "gerechten" Gesellschaft gelebt haben und diese ist, wie sie wissen sollten, kläglich gescheitert." Van Fiore schien mich nicht unbedingt für meine Ansicht zu verdächtigen, noch schien er besonders verwirrt. Trotzdem sollte ich meine Deckung nicht wegen seiner Meinung fallen lassen.
"Das mag stimmen. Dennoch ist die Sterberate, gerade unter Kindern, sehr hoch. Die Unterschicht sollte genug gefördert werden um diese Sterberate zu verringern. Als ich als Soldat gedient habe, habe ich einige loyale Soldaten aus der Unterschicht kennen gelernt. Gute Männer und noch bessere Soldaten, doch es gab kaum einen von ihnen, der nicht ein Familienmitglied an etwas verloren hat, dass für uns sehr leicht zu verhindern wäre. Krankheiten, wie zum Beispiel die Grippe, die für uns kaum mehr als eine Unannehmlichkeit ist, gelten dort als eine durchaus tödliche Krankheit. Viele die ein Körperteil verloren haben, hätten sich nicht selten lieber umgebracht als zurück zu kehren, weil sie wussten, dass sie ihre Familie nur belasten würden", argumentierte ich. Es gab noch so viel mehr, was ich sagen wollte. Kinder die ihre Eltern verlieren, weil sie einfach nicht genug Geld für ein tägliches Essen hatten, so wie wir damals. Oder das viele Familien in Räumen lebten, die kleiner waren als mein Schlafzimmer hier, und in vielen Fällen aus mehr als fünf Personen bestanden. Eine Wohnung die so groß war wie mein Schlafzimmer, war in der Unterschicht ein Luxus. Genau wie sauberes Trinkwasser oder ein eigenes Badezimmer. Schon alleine ein einfach ein einfacher und ausreichend bezahlter Beruf war eine Seltenheit. Bildung gab es oft wenn überhaupt nur von der eigenen Familie. Straßenkinder lernten in der Regel weder Schreiben noch Lesen oder Rechen. Die Unterschicht hatte nicht genug. Sie hat wenn überhaupt genug um gerade mal so zu überleben. Ihr ging es nicht "gut genug". Ihr ging es noch nicht mal "fast schon gut genug". Der Unterschicht ging es schlecht.
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Lynx&Lion - The Elite
Teen FictionBand 2 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Lucien und Azad verfolgen immer noch den selben Plan: Den Sturz der Elite. Doch sie stehen nun auf unterschiedlichen Seiten. Während Lucien die Rebellion verlassen hat und zur Elite zurückgekehrt...