Vis.
In den letzten Monaten hatte ich herausgefunden, dass alle drei Bedeutungen durchaus auf sie zutrafen. Sie besaß sowohl innere als auch äußere Kraft und Stärke, aber tief in ihr verborgen schimmerte etwas hervor, was mir nicht behagte. Sie schien für ihre Ziele über Leichen zu gehen. Nein, es schien nicht nur so, es war genauso so. Um an die Macht zu gelangen, war ihr jeder Preis recht. Und ich musste sie an die Macht lassen, um die Menschheit zu retten- irgendwie ironisch, oder? Sie würde vermutlich keinen Deut besser sein als mein Vater, auch wenn ich immer noch sehr daran zweifelte, dass ich es war.
War überhaupt jemand würdig die Menschheit zu regieren? War irgendein Mensch gut genug dafür und verfolgte keine egoistischen Ziele? Wie konnte sich jemand so hochstellen, dass er oder sie dachte es würdig zu sein die Menschen zu beherrschen? Es gab viele Menschen, die nach der Macht strebten und vermutlich war keiner von ihnen dazu geeignet genau diese Macht in der Hand zu halten. In einem Buch hatte ich einst gelesen, dass es am besten war denjenigen die Macht zu geben, die sie am wenigsten wollten, denn sie waren es, die das beste daraus machen würden. Aber wer wollte schon keine Macht besitzen? Wer wollte schon nicht zu den Starken und Einflussreichen gehören? Vermutlich gierte letztlich jeder auf die ein oder andere Weise nach Macht. So auch ich.
"Hallo Luchs", schnurrte eine Stimme und augenblicklich spannte sich jeder Muskel an, bereit für Flucht. Dieser Name gehörte einfach nicht in diese Welt. Ich versuchte gelassen zu wirken als ich mich umdrehte und blickte meine Verlobte mit einer Mischung aus herablassender Arroganz und warnendem Blick an. Auf Iavils Lippen breitete sich ein Lächeln aus, welches ich nicht ganz deuten konnte, so wie ich sie auch insgesamt noch immer nicht wirklich begriffen hatte. Sie war eine junge Frau voller Geheimnisse. Sie trat näher zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter, welche ich augenblicklich beiseite wischte, woraufhin sich ihre perfekten, vollen Lippen zu einem Schmollmund verzogen. "Warum denn so schlecht gelaunt, Lucien? In einer Woche findet unsere Verlobungsfeier statt, du solltest dich freuen." Sie ließ sich mit einer geschmeidigen Bewegung neben mir auf einem Stuhl nieder und betrachtete mich mit einem ruhigen, fast schläfrigen Blick. Allerdings wusste ich, dass viel mehr hinter diesem Blick steckte. Sie war niemals unwachsam, sie bemerkte alles und es gab niemanden, der mehr aus den kleinsten Bewegungen und Worten einer Person lesen konnte. Vermutlich war auch genau das der Grund, warum ich es aufgegeben hatte mich ihr gegenüber zu verstellen. Sie wusste ohnehin wer ich war. Ich wusste nur nicht wie viel sie wusste, weswegen ich dennoch so wachsam wie mir nur möglich war.
Mo war vollkommen von Iavil verzaubert und stand komplett unter ihrem Bann, dabei war sie sonst eigentlich eher wählerisch, was ihre Freunde anging. Nicht weil sie überheblich gewesen wäre, sondern weil viele einfach nicht mit ihrer Art umgehen konnten und sie keine falschen Freunde wollte. Da war es ihr lieber erst gar keine Freunde zu besitzen. Und vermutlich war es in dieser Welt ohnehin besser keine Freunde zu haben, denn Freundschaften bedeuteten einfach nichts. Anderes wurde stets über eine Freundschaft gestellt.
Iavil hatte allerdings nicht nur meine jüngste Schwester manipuliert, sondern zog ihre Fäden durch meine ganze Familie und hinterließ eine bleibende Spur. Selbst mein Vater schien von ihr auf eine gewisse Art und Weise angetan zu sein, auch wenn ich nicht wusste, ob es an ihren Fähigkeiten lag oder daran, dass er sich selbst in ihr wiedererkannte. Beide gierten nach der Macht und konnten nicht genug davon bekommen, egal auf welche Art und Weise.
"Was willst du hier?" Meine Stimme klang kühl als ich mich an die Blondine wandte, woraufhin sie ihre Haare auf anmutige Art und Weise aus ihrem Gesicht strich und sich wieder aufrichtete. "Dein Vater erwartet uns zum Abendessen. Gemeinsam. Und wenn du an dein Ziel kommen willst, solltest du besser so tun, als würdest du dich auf unsere Verlobungsfeier freuen." Sie richtete sich geschmeidig und so rasch auf, dass mir bewusst wurde wie leicht sie jemanden töten könnte ohne dass derjenige überhaupt eine Chance hatte zu reagieren. Die Erkenntnis jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, weckte aber gleichzeitig meinen Jagdinstinkt. Ich würde mich ihr gegenüber nicht so einfach geschlagen geben. Ich war ein Luchs. Geboren um zu töten. Ich würde nicht klein beigeben, vor niemandem. Ich würde die Menschheit retten und sie auch vor Iavil beschützen. Sie würde niemals an die Macht kommen und wenn ich sie dafür töten müsste. Und wenn ich alle dafür töten musste, die sich mir in den Weg stellten.
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Lynx&Lion - The Elite
Teen FictionBand 2 der Lynx&Lion- Reihe ________________________ Lucien und Azad verfolgen immer noch den selben Plan: Den Sturz der Elite. Doch sie stehen nun auf unterschiedlichen Seiten. Während Lucien die Rebellion verlassen hat und zur Elite zurückgekehrt...