4.Kapitel

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1954

Stürmisches Wetter und der Drang, etwas zu trinken, hatten sie geweckt.
Zögerlich zog sie die Bettdecke von ihren Beinen, um anschließend aufzustehen.
Es war mitten in der Nacht und sie hatte sich nur zu sehr, bemüht wieder einzuschlafen.
Der Donner und das Grollen der Regenwolken hatten sie wach gehalten.
Wie sie es hasste, im Dunkeln umherzuirren, ohne etwas zu sehen und ganz allein.
Seit fast zehn Jahren lebten sie bereits in dem Haus, aber während andere Kinder sich über ihr eigenes Zimmer, fließendes Wasser und das geborgene Gefühl, das ihr Zuhause ihnen gab, freuten, war es eben dieses Gebäude, dieses Haus, das sie ihr Zuhause nannte, das sie nachts so unglaublich zu verachten schien.
Die großen Bogenfenster, wegen denen alles lange Schatten zog, die eiskalte Umgebung, lichtlos und düster, die ihr jede Nacht erneut einen Schauer durch ihre Knochen schickte.
Wackelnd stand sie auf und suchte sich unsicheren Halt an ihrer Bettlehne.
Das dunkle Holz war durch die lange Zeit, die, seitdem es da stand, vergangen war, zerkratzt und ebenso wie viele andere Gegenstände in diesem Haus, waren seine besten Zeiten schon längst vorbei.
Sie eilte hastig zu ihrer Schlafzimmertür.

Desto früher sie ging, desto früher würde sie auch wieder zurückkommen.

Der Dielenboden war eiskalt und legte ihr somit einen weiteren Grund zu Füßen, schnell wieder in ihr warmes Bett zu gelangen und sich die Wolldecke um ihre Schultern zu schlagen.
Wind pfiff durch die Baumkronen und Regentropfen stürzten auf das Dach.
Das nebenliegende Badezimmer war nur ein paar Meter von ihrem Schlafgemach entfernt.
Es war ein kleiner, grau gefliester Raum, dessen Wand von einem mittelgroßen, milchigen Fensterglas eingenommen wurde.
Ein kühler Windstoß schlug durch eben jenes Fenster, welches in weiter Angel geöffnet stand, und brachte das kurzhaarige Mädchen zum Zittern.
Die Kälte stellte jedes ihrer Nackenhaare auf.
Gardinen wehten ihr entgegen, als sie näher an die Fensterscheibe trat, um es zu schließen.
Der Boden war feucht von den vielen Regentropfen, die das Wetter hineingetrieben hatte.
Vorsichtig trat sie an den Wasserhahn.
Schwer drehte sie an ihm, bis sein Metall endlich nachgab und Wasser in das Porzellanbecken lief.
Der Abfluss gurgelte einen kurzen Moment, bevor er alles geräuschlos ablaufen ließ.
Kühles Wasser lief durch ihren Mund und befeuchtete ihren trockenen Hals.
Vielleicht würde sie jetzt wieder einschlafen können.
Mit Mühe schloss sie den Wasserhahn wieder und stolperte beim Verlassen des Raumes fast über ihre eigenen nassen Füße.
Missbilligend schüttelte sie den Kopf. Bei dem starken Regen ein Fenster zu öffnen.

Wer wäre wohl auf solch eine absurde Idee gekommen?

Nachdenklich strich sie ihre Hände an ihrem Nachthemd trocken.
Ihre Augen hatten sich schon lange an die dunkle Umgebung angepasst und trotzdem war es ihr, jetzt, da sie aus dem Licht des Fensters getreten war, kaum möglich, ihre eigene Hand vor Augen zu sehen.
Jeder Schritt auf dem kalten Boden ließ sie einen Augenblick zusammenzucken.
Gerade, als sie ihr Zimmer betreten wollte, zog ein unübliches Geräusch sie aus ihren Gedanken.
Es war vielleicht zwei Uhr in der Nacht, sagte ihr ihr Zeitgefühl, und sie war sich sehr sicher, dass niemand außer ihr wach sein sollte.
Madame Williams, ihre Aufseherin und derzeitiger Vormund, war bereits um zehn Uhr Abend ins Bett gegangen. Sie hieß es nicht gut, wenn jemand, sich selbst miteingeschlossen, zu so später Stunde noch auf den Beinen war.
Erneut drang das Geräusch an ihre Ohren, diesmal schien sie jedoch mehr darauf zu achten.
Es war ein Kratzen, ein unaufhörliches, kaum merkliches Kratzen, womöglich war es sogar schon da gewesen, als sie ihr Zimmer verlassen hatte, sie wusste es nicht.
Sie zupfte nervös an ihrem Nachtkleid, wie sie es immer tat, wenn sie überlegte, was sie tun sollte.
Sie war durchaus kein schreckhaftes Mädchen, sie selbst würde sich wahrscheinlich ausreichend mutig nennen, aber irgendetwas sagte ihr, dass es kein gutes Geräusch war.
Kein Reden aus dem Nebenzimmer, welches einem vermittelt, dass da noch Jemand ist, falls etwas passierte. Kein Rauschen aus den Heizungsleitungen, das einem sagt, dass du diese Nacht warm schlafen wirst. Nein, eines dieser Geräusche, von denen du einfach weißt, dass es nichts Gutes bedeuten. Es verursachte ihr eine Gänsehaut, viel schlimmer, als es die Eiseskälte tat.
Langsam tastete sie die Treppenstufen ab, nachdem sie durch Zuhören den ungefähren Entstehungsort der Geräusche identifiziert hatte.
Sie würde bestimmt nicht wieder ins Bett gehen, um auf den Tod durch einen Räuber, oder was auch immer das denn war, zu warten
Die Schwarzhaarige zuckte kurz zurück, als sie den kalten Marmor mit ihren nackten Füßen berührte.
Sie eilte so leichtfüßig, wie es ihr nur möglich war, die Wendeltreppe hinunter und erblickte bereits einen leichten Lichtschimmer.
Unsicher trat sie einen Schritt näher, als sie den scheinbaren Täter gefunden hatte.
Verwirrt legte sie dem Jungen, der mit dem Rücken zu ihr gekniet vor dem Geländer stand und sie noch immer nicht bemerkt hatte, die Hand auf die Schulter.
Der Junge sprang ängstlich auf und drehte sich ihr zu.
So spät hatte sie ihren Bruder nicht mehr im Haus erwartet.

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