7.Kapitel

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Warnung: in diesem Kapitel wird ein sensibles Thema angesprochen, das nicht jeder verträgt. Das Thema ist Selbstmord, sollte es also Leute geben, die sich auf diese Warnung angesprochen fühlen, sollten sie sich zwei mal überlegen, ob sie weiterlesen.

1953

Es war ein paar Tage vor Neujahr.
Der Schnee hatte sich über die alten Häuser gelegt, die in der Abendsonne wie Diamanten funkelten.
Die Gaslaternen waren gerade erst durch elektronische Straßenbeleuchtung ersetzt worden.
Die Leute hier waren stur und hatten sich ziemlich lange gegen die Modernisierung in ihrer Stadt gewehrt.
Die Lorens waren eine anpassbare Familie. Sie hatten den Fortschritt mit offenen Armen begrüßt und trotzdem hing über ihnen noch eine Öllampe, die mit ihrem Feuer den ganzen Raum in ein wärmendes Licht tauchte.
Das Esszimmer, in dem sie sich versammelt hatten, war etwa neun Fußhoch und keinesfalls als klein zu betiteln. Die Wand war mit dunklem Holz verkleidet, welches den Raum finsterer aussehen ließ als er eigentlich war. 

Die Schatten schienen sich in den Ecken zu sammeln und auf die endgültige Dunkelheit zu warten.
Auf dem Boden lag ein weicher indischer Seidenteppich, auf dem ein langer Esstisch aus Eibenholz stand, dessen Lackierung im Licht der Lampe glänzte.
Der Speisesaal lag im oberen Stockwerk und war wahrscheinlich einer der teuersten Räume des ganzen Hauses.
Wie jeden Abend saß die Familie an dem viel zu großen Tisch und machte sich über das Abendessen her.
Im Marmorkamin an der Wand brannte ein helles Feuer, welches das Holz zum Knistern brachte.
Claire trug einen hellgrauen Schlafanzug und hatte ihre kurzen Haare so gut es ging zusammengebunden.
„Was meinst du?"
Sie schob eine Gabel in dem Mund und schaute ihren Bruder fragend an.
„Naja, also, ich finde, wir sollten ihn fragen", teilte ihr Zwillingsbruder seine Meinung mit.
„Aber...Vielleicht sollten wir ihn auch einfach in Ruhe lassen, du weißt ja, dass ihn seine Arbeit manchmal überfordert."
Sein Blick war wieder zu Claire gewandert, die gerade nach noch einer Semmel aus dem Brotkorb griff.
Schritte waren vom Gang aus zu hören und im nächsten Moment öffnete sich eine der Flügeltüren des Raumes.
„Tut mir leid. Ich musste noch ein paar Sachen überprüfen."
Ein jüngerer Mann war ins Zimmer eingetreten und warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu. Er hatte etwas hellere Haare als seine Geschwister, teilte aber ihre strahlend blaue Augenfarbe.
Er setzte sich auf einen der Stühle neben den Zwillingen und nahm sich einen Teller Nudeln.
Er war schlank und ein bisschen kleiner als der Durchschnitt in seinem Alter.
James warf einen Blick über seine Schulter und wandte sich dann wieder seinem Essen zu.
Claire schaute ihren gleichaltrigen Bruder an und nickte dann zustimmend.
Sie hatten ihr Essen fast fertiggegessen und nur der Älteste stocherte noch in seinem Teller herum.
Seine Gedanken schienen weit über den Wolken zu hängen und sein Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen.
Clarence räusperte sich.
„Claire und ich haben uns gefragt, ob es dir vielleicht nicht gut geht, weil du in letzter Zeit so abwesend bist." Der Schwarzhaarige fing an, das Geschirr von ihm und seiner Schwester aufzustapeln.
Es dauerte eine Weile, bis die Worte bei seinem Bruder angekommen waren, sodass Clarence gerade vom Stuhl aufgestanden war, um anschließend die Teller und Gabeln, die noch immer auf dem Tisch lagen, in die Küche zu räumen.
James ließ von seinem Essen ab und stand auf.
Seine Beine waren müde und seine Muskeln hatten sich für den Rest des Tages bereits verabschiedet. Einen kurzen Augenblick dachte er über seine Antwort nach.
Was würden Worte bringen? Was würden sie ändern?
Er zog seine Geschwister zu sich und schloss sie in die Arme.
„Es wird alles wieder gut. Ich verspreche es."
In seiner Stimme war so viel Erschöpfung und Sorge zu hören, die einem Abschiedsbrief hätte gleichen können.
Tränen rannen über seine Wangen, die seine Geschwister nicht sahen. Ihm viel es schwer, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken und wie durch ein Wunder erkannte niemand, wie traurig er wirklich war.
„Ihr seid hier sicher. Ich verspreche es."
Noch immer hielt er seine Liebsten zwischen seinen Armen, nicht fähig, sie je wieder loszulassen.
„Ich werde euch beschützen."
Widerwillig löste er sich von ihnen.
Zu seinem Glück war das Licht des Raums zu dämmrig um seine nassen Wangen zu erkennen. „Geht es dir wirklich gut, Bruder?"
Claire war betrübt, dass James sie bezüglich seiner Trauer anlog. Kein Wort, kein Verspechen oder sonst etwas hätte sie vom Gegenteil überzeugen können, aber sie hielt sich zurück.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ebenso wenig wie Clarence.
„Ich habe für euch beide noch etwas mitgebracht."
Der Älteste wischte sich unauffällig über die Augen.
Sofort war wieder Freude in den Raum eingekehrt. Bei jedem der drei hatte sich ein Lächeln auf die Lippen gesetzt.
Der Ernst der vorherigen Minute war wie verflogen und eine freudige Spannung hatte seinen Platz eingenommen.
„Das hat unserer Mutter gehört."
Er reichte Claire eine Silberkette, die er zuvor noch getragen hatte.
„Denkt dran! Irgendwo im Himmel sitzen Engel und wachen über euch."
Er deutete zur Decke und stupste mit seinem Zeigefinger ihre Nasenspitze an.
Wie es damals seine Mutter bei ihm gemacht hatte, hatte auch er sich Mühe gegeben seine Geschwister christlich zu erziehen.
Letztendlich war es ihm egal, ob der Gott, an den er glaubte, überhaupt existierte.
Denn es war die Hoffnung, die ihn zum Glauben brachte, nicht ein gemeinschaftlicher Zwang.
„Und für dich...", er drehte sich zu seinem Bruder, der schon von Freude bestimmt auf und ab sprang, „...habe ich das hier." Er legte ein kleines Armeetaschenmesser in die Hände des Jüngeren und wuschelte ihm lächelnd durch die Haare. Die Himmelblauen Augen des Jungen strahlten und in ihnen spiegelte sich dessen Freude.
„Das hat Vater mir gegeben, bevor er verschwunden ist. Es klemmt, aber es macht noch seinen Job."
Er warf erneut einen Blick zur Tür und brachte die beiden Kinder zu ihren Schlafzimmern, die nur wenige Meter entfernt waren.
„Falls ihr mich braucht, ich bin in der Bibliothek."
Er wusste, dass sie in ein paar Monaten 14 Jahre wurden und definitiv keine Hilfe mehr beim Einschlafen brauchten, aber trotzdem sagte er jeden Abend, wenn sie ins Bett gingen, wo er war.
Vielleicht wurde er einfach zu alt, um sie richtig einzuschätzen, aber wahrscheinlicher war, dass er es nicht besser wusste und immer für seine jüngeren Geschwister da sein wollte.
„Ach...und Clarence, pass bitte auf, das Messer ist relativ scharf!", informierte er noch seinen kleinen Bruder, als dieser in seinem Schlafzimmer verschwand.
Seine Haare standen chaotisch in alle Richtungen ab.
Müde legte er sich ins Bett. Seine Glieder hatten bereits mit der Nachtruhe begonnen und hörten kaum noch auf seine Befehle.
Er schloss seine Augen, aber kein Moment ließ ihn von den Gedanken, die ihn so sorgen ließen, abkommen.
Minuten, vielleicht sogar Stunden, starrte er an die dunkelbraune Deckentäfelung seines Zimmers und spürte den eisig kalten Wind des offenen Fensters auf seiner Haut.
Die Winterkälte war ein angenehmes Gegenstück zu der heißen, schwülen Luft in seinem Zimmer. Seine Gedanken fanden in dieser Nacht einfach keine Ruhe.
Unsicher stand er auf und tastete sich zu seiner Zimmertür.
Er wollte nicht nutzlos herumliegen, während es seinem Bruder so schlecht ging.
Für ihn gab es keine Erklärung für das seltsame Verhalten des 29-Jährigen.
Nichts hatte es gebracht, ihm hinterher zu schleichen, er hatte nur in einer der alten Schriften gelesen, wie er es nur allzu oft tat.
Am nächsten Abend war es fast dasselbe.
Er hatte sich ein Glas Whiskey eingeschenkt, sich vor den Kamin gesetzt und einfach nur in die Flammen gestarrt.
Es war der erste Alkohol seit Jahren und er trank auch nicht wirklich viel. Es blieb bei dem einen Glas und schnell schlief er vor dem Feuer ein, von dem nichts als nur noch glühende Kohlen übrig geblieben.
Das dunkelrote Sofa, das im Wohnzimmer des dritten Stocks lag, war weicher als Seide, weshalb er wahrscheinlich so oder so eingeschlafen wäre.
Clarence blieb ein paar Minuten und wollte gerade wieder zurück in sein Zimmer, als das Telefon klingelte.
James schreckte auf. Sein entspannender Schlaf - und auch sein erster seit zwei Tagen - wurde durchbrochen.
Müde rieb er sich seine Schläfen und stand wackelnd auf.
Anfangs war seine Sicht schummrig, doch schnell änderte sich das.
Wie ein Schlag traf ihn die harte Realität und er zuckte schreckhaft zusammen, als er das klingelnde Telefon registrierte.
Seine Beine waren eingeschlafen und der Whiskey hatte einen brennenden Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen.
Die Frage, wer um Mitternacht anrief, stellte sich offenbar nur der Jüngere der Beiden, der sich angespannt an die Wand des Ganges presste, um so viel wie möglich verfolgen zu können.
Zögernd nahm James den Hörer des Telefons ab und führte ihn zum Ohr.
Kaum hätte Clarence seinen Augen getraut, denn das, was sich in den Augen seines Bruders spiegelte, war Panik.
Nie zuvor hatte er Panik auf seinem Gesicht gesehen.
Trauer, Mitgefühl, selten auch Wut, aber niemals Panik.
Es war nur ein Schimmer und es wäre ein leichtes gewesen, den zu übersehen.
„...ja"
James legte den Hörer auf die Halterung über die Wählscheibe der Nummern. Er nahm einen Schluck aus der Flasche, dann setzte er sich auf die Knie und faltete seine Hände.
Er murmelte ein Gebet, doch mitten im Vers stoppte er.
Was ihn daran hinderte weiterzureden wusste er nicht und konnte er nur vermuten.
Blitzartig sprang er auf und rannte zur Tür hinaus.
Der Jüngere hatte sich gerade noch rechtzeitig hinter einem Schrank versteckt, bevor die Tür aufgeschlagen wurde und James nach draußen stürmte.
Er trug eine dunkle Hose und ein rotes Hemd mit einer Strickjacke.
Draußen fegte der Wind um die Blätter der Bäume und riss Pflanzen aus als wären sie aus Papier. Die roten Farben des Himmels waren verschwunden und nur irgendwo hinter dem Horizont erkannte man noch das restliche Licht der Sonne.
Clarence rannte ihm unauffällig hinterher.
Schnell hatte er sich die Winterjacke seiner Schwester geliehen und war nach draußen in die kühle Nachtluft verschwunden.

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