Kapitel 5 - Ein Nashorn und eine Waldfee

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Ich wünschte, ich würde mich wohl in Sportkleidung fühlen. Doch das tat ich nicht. Diese enganliegende Yogahose war mir einfach nur fremd. Es passte nicht zusammen. Es war, als würde man einem Baby einen Anzug inklusive Krawatte anziehen.

Doch ich konnte ja schlecht in Jeans oder gar in einem Kleid auftauchen.

Bela umarmte mich zur Begrüßung und es fühlte sich trotz unseres langen Spaziergangs gestern, immer noch ein wenig befremdlich an. Es war, als wäre über Nacht die Vertrautheit wieder ein Stück weit verloren gegangen.

Kaum zu glauben, wir selbstverständlich wir früher Händchen gehalten oder in einem Bett geschlafen hatten.

"Ich dachte, dass wir für den Anfang zum See joggen", ließ er mich wissen, als wäre es für mich nicht die geringste Anstrengung. "Das sind nur 3 Kilometer und sollte zum Aufwärmen reichen."
Mit großen Augen sah ich ihn an.

3 Kilometer?

Zum Aufwärmen?

War ihm bewusst, dass ich die Sportlichkeit einer Qualle hatte?

Und Quallen hatten einen Muskelanteil von 1% und sie besaßen nicht einmal Lungen.

"Das packst du", sagte er aufmunternd und klopfte mir auf die Schulter, als wäre er ein alter Herr. "Glaub mal an ein bisschen an dich!"

Das war vermutlich mein größtes Problem. Es hatte nie jemand an mich geglaubt und deshalb hatte ich auch nie gelernt an mich selbst zu glauben.

"Bin ich nicht so gut darin", murmelte ich.
"Ich glaube an dich", sagte er plötzlich, als hätte er meine Gedanken gelesen. "Ich weiß, dass du das kannst. Nur deshalb habe ich diese Strecke ausgewählt. Und jetzt komm. Wenn man nie den ersten Schritt macht, kommt man nie da an, wo man hin möchte."
Ich war mir nicht sicher, ob ihm die Tiefgründigkeit seiner letzten Worte bewusst waren.

Tatsächlich joggten wir langsam los, denn ich wollte vorankommen.

Trotzdem hasste ich es.

Mein eigener, schwerer Atem erinnerte mich kontinuierlich daran, wie schlecht meine körperliche Verfassung war. Ich ärgerte mich so sehr über mich selbst, denn meine Faulheit hatte mich in diesen Zustand gebracht. Bela musste das Gefühl haben, dass neben ihm ein Nashorn mit Asthma rannte. Er hingegen schwebte wie eine Waldelfe über den Erdboden und das obwohl er noch einen Rucksack auf dem Rücken trug. Nicht eine Schweißperle konnte ich erkennen, während sich Wasserfälle den Weg über meine Schläfen suchten.
Ich fühlte mich eklig und dreckig.

Schließlich kamen wir an dem See an. Ich ließ mich auf die Wiese fallen.

Ich hätte keinen Schritt weiter gehen können.

"Oh nein!", mahnte er mich jedoch sofort. "Noch ist keine Pause! Jetzt machen wir noch einen Kraftteil."

"Ich kann nicht mehr", hechelte ich.

Er schüttelte entschieden den Kopf.

"Du glaubst, du kannst nicht mehr, aber das stimmt nicht. Du bist deutlich stärker, als du denkst."

Er reichte mir eine Hand, um mich hochzuziehen. Ich entschied mich lieber mich selbst aufzurichten, um ihn vor meiner Schweißhand, an der nun auch noch Erde klebte zu bewahren.

Dann fuhr er die Folter fort. Sie trug die Namen: Ausfallschritte, Kniebeuge, Sit-Ups und Liegestütze.

Alle Übungen machte er mit mir mit. Es war ein sehr ästhetischer Anblick seine Muskeln arbeiten zu sehen. Ich konnte eine solche Ästhetik leider nicht bieten. Ich erinnerte wohl eher einen Skydancer, dem die Luft ausging.

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