Kapitel 20 - Der Traummann

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"Woher weißt du, wo ich wohne?", fragte er verdutzt, als ich um zehn Uhr abends vor seiner Tür stand.

"Ich habe Bela gefragt."

Meiner Stimme konnte man vermutlich anhören, dass ich geweint hatte.

"Okay", sagte Pepe zögerlich. "Komm erst einmal rein! Und dann erzähl was los ist."

Er machte einen Schritt nach hinten, damit ich in seine Wohnung eintreten konnte. Der Flur war klein, aber dafür wunderbar warm.

Pepe wirkte vollkommen perplex. Ich war von mir selbst erstaunt, dass ich mich in diesem Moment nach ihm gesehnt hatte und nicht nach Bela.

"Lilly, was ist denn los?", fragte er nun nervös. "Kann ich dir irgendetwas anbieten? Wollen wir uns ins Wohnzimmer auf die Couch setzen?"

"Ich hatte keinen guten Tag", sagte ich, ohne auf seine Fragen einzugehen. "Ich habe gerade nicht die Kraft über die Details zu reden." Ich hielt inne. "Ich wollte dich einfach sehen."

Er lächelte schwach. Die Tatsache, dass ich mich nach ihm gesehnt hatte, schien in ihm ein positives Gefühl auszulösen. Es erleichterte mich ihn so zu sein. Meine Angst war groß gewesen, dass er mich nach der misslungenen Kussaktion zurückweisen würde. Er nahm mich in seine Arme. Ich sah zu ihm herauf, denn er war einen Kopf größer als ich.

"Tut mir leid, dass ich dich neulich so abblitzen lassen habe. Ich war wirklich überfordert."

Er nickte und strich mir über die Wange.
"Ich weiß", flüsterte er. "Zugegebenermaßen habe ich dich auch ein wenig überrumpelt."

Wir mussten beiden lachen.

Doch dann sah ich ihm wieder in die Augen und wir verstummten kurz.

"Kannst du das noch einmal machen?", fragte ich.

Er zog einen Mundwinkel hoch.

"Was meinst du? Überrumpeln?"

"Den Kuss", antwortete ich.

Ich brauchte kein zweites Mal fragen.

Dieses Mal konnte ich es genießen. Das war mein erster richtiger Kuss. Der Kuss, von dem ich meinen Kinder erzählen würde. Ich schloss meine Augen, um den Moment für immer in meinem Gedächtnis zu behalten. Dieses warme Gefühl in meinem Herzen wollte ich nie wieder vergessen.

Pepe zog mich in eine innige Umarmung. Die Körpernähe tat mir so gut. Wie selbstverständlich legte ich meinen Kopf auf seine Brust.

Viel zu lange hatte ich schon ohne körperliche Zuneigung auskommen müssen.
"Ich wusste gar nicht, dass du so anhänglich sein kannst", sagte er schmunzelnd.

Er hatte ja keine Ahnung. Ich war so lange auf Entzug von Liebe gewesen, sodass er mich vermutlich nie wieder loswerden würde.

"Willst du mir wirklich nicht erzählen, was dich eigentlich hergetrieben hat? Es muss doch irgendeinen Auslöser gegeben haben."

Ich würde ihm nicht von dem Pseudokuss mit Bela erzählen, doch das war eh nicht der Grund gewesen, warum ich von Zuhause geflüchtet war.

"Mein Vater ist fremdgegangen. Und ich weiß, dass sich das nicht dramatisch anhört, aber für mich ist das wirklich schlimm. Er hat sich für eine andere und gegen seine Familie entschieden und das tut einfach weh. Ich habe mich ungeliebt und einsam gefühlt."
Liebevoll streichelte Pepe mir über die Wange.

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich aufgrund einer anderen Frau weniger liebt, als vorher. Dann wäre er ein wirklich ziemlicher Idiot." Ich zuckte mit den Schultern. Vielleicht war er ja ein ziemlicher Idiot. "Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang machen und du erzählst mir alles im Detail?"

Ich nahm seine Hand und es fühlte sich natürlich und doch aufregend an. So was es also wirklich verliebt zu sein.

"Gern", ließ ich ihn wissen.

Ich konnte es kaum glauben, dass ich mit einem Mann Hand in Hand durch die Straßen ging. Noch nie im Leben hatte ich mich so erwachsen gefühlt. Zwar war ich schon länger volljährig, doch ich hatte mich trotzdem immer eher wie ein Mädchen anstatt einer erwachsenen Frau gefühlt.

Ich wusste zwar nicht genau, wie ich das, was zwischen Pepe und mir war, einordnen sollte, aber es fühlte sich gut an.

Er war bereits spät abends und die Läden hatten geschlossen, doch es war schön mit ihm im Licht der Straßenlaternen zu laufen und über alles Mögliche zu sprechen. Wir redeten über schöne Dinge, aber auch über all meine Probleme. Ich konnte ihm alles anvertrauen.

Stundenlang liefen durch die Dunkelheit. Er erzählte auch von seiner Lebensgeschichte, die sich jedoch deutlich heiterer anhörte als meine eigene.

Schließlich kamen wir an einem Obdachlosen vorbei, der am Straßenrand auf einer Pappe saß. Ich wusste nie, wie ich damit umgehen sollte. Natürlich hatte ich Mitleid, aber ich konnte ihnen auch nicht helfen. Gleichzeitig hatte ich auch immer ein bisschen Angst und Ekel. Ich schämte mich für letztere Gedanken, doch ganz abschütteln konnte ich sie deshalb trotzdem nicht.

Es war unhöflich Menschen zu ignorieren, nur weil sie am Boden saßen und um Geld bettelten. Auf der anderen Seite wollte ich auch nicht, dass sie sich von mir beobachtete fühlen. Jedes Mal fragte ich mich, was wohl die respektvollste Reaktion war.

Pepe blieb jedoch wie selbstverständlich stehen und zückte sein Portemonnaie.

Der Obdachlose sah zu ihm auf. Auch er schien damit nicht gerechnet zu haben. Dann holte Pepe einen 20 Euro Schein aus einem der Fächer. Sowohl meine Augen, als auch die des Obdachlosen wurden groß.

20 Euro?

"Bitte", sagte Pepe und überreichte den Schein. "Ich hoffe, das hilft dir ein wenig weiter."

Der Mann, der wahrscheinlich deutlich jünger war, als er im Moment mit seinen zerzausten Bart aussah, nickte.

"Danke dir! Wirklich!", sagte er aufrichtig.

Pepe nickte ihm zu.

"Nicht dafür! Pass auf dich auf!"

"Mach ich! Ich wünsche euch noch eine schöne Nacht!"

Damit wurde die Interaktion beendet und wir gingen weiter. Sobald der Mann außer Hörweite war, begann ich die Fragen in meinem Kopf auszusprechen.

"Du hast ihm 20 Euro gegeben? 20 Euro? Das ist ganz schön viel!", sprudelte es aus mir heraus.

Pepe sah mich stirnrunzelnd an.

"Ist es das?"

"Ja, die meisten Leute geben einen Euro oder so."

"Ja, das hilft natürlich auch, aber mit 20 Euro kann man deutlich mehr anfangen", antwortete er trocken.

"Aber wenn du das bei jedem Obdachlosen machst, bist du sehr schnell arm", bemerkte ich.

"Ich mache das einmal die Woche", ließ er mich wissen. "Ich gehe einmal die Woche Blutplasma spenden und bekomme dafür 20 Euro. Es fühlt sich für mich falsch an, dieses Geld anzunehmen, also gebe ich es immer einem Obdachlosen. Ich stell es mir schrecklich vor auf der Straße leben zu müssen. Du weißt nicht, wo du essen, duschen oder schlafen sollst. Diese Menschen können diese 20 Euro mehr gebrauchen als ich."

Wow! Er war ein noch so viel besserer Mensch als ich.

"Das ist sehr ehrenwert von dir."
Er schüttelte den Kopf.

"Ach, es ist doch keine große Sache."

Für mich schon! Denn es zeigte, was für ein warmherziger Mensch er war, was seine Attraktivität um einiges steigerte.

Ich blieb stehen und hatte das dringende Bedürfnis ihn noch einmal zu küssen. Er zog mich dicht an sich heran und verspürte offenbar das gleiche Bedürfnis. Auf einmal konnte ich es überhaupt nicht mehr nachvollziehen, wieso ich seinen ersten Kuss abgewiesen hatte. Pepe war perfekt. Er war nett, einfühlsam, empathisch, gut aussehend und voller Humor. Es war als würden mir plötzlich die Schuppen von den Augen fallen: Er war ein Traummann!

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Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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