Kapitel 25 - Schmerz und Tränen

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Ich wusste, dass er tot war. Etwas anderes konnte dieses Kopfschütteln und vor allem der fassungslose Gesichtsausdruck nicht bedeuten. Da mein Verstand das nicht verarbeiten konnte, erhielt ich mir trotzdem noch einen Funken Hoffnung. Schnellen Schrittes gingen Pepe und ich auf sie zu.

Noch bevor wir nachhaken konnten überbrachte sie uns schon die Todesnachricht.

"Er hat es nicht geschafft."

Der Satz schien die Welt zum Stillstand zu bringen.

"Sein Herz ist einfach stehen geblieben und sie konnte es nicht mehr zum Schlagen bringen."

Es folgte ein lautes und herzzerreißendes Schluchzen, das durch Mark und Knochen ging.

Sofort nahm sich Pepe ihrer an und schloss sie in eine Umarmung. Die arme Frau brach vollkommen in sich zusammen. Kein Wunder, denn sie hatte soeben ihren Sohn verloren. Ihr einziges Kind.

Ich verfiel derweil in eine Schockstarre. Ich wollte auch laut losweinen können oder all meinen Schmerz herausschreien, doch stattdessen war ich einfach nur still. Es war, als hätte ich plötzlich verlernt zu fühlen. Alles fühlte sich taub und dumpf an.

Ich sah zu, wie Pepe sich fürsorglich um Petra kümmerte und versuchte, ihr irgendwie Trost zu spenden. Derweil war ich einfach nur noch leer.

Ich versuchte irgendwie zu begreifen.

Bela war nicht mehr da. Ich würde nie wieder mit ihm sprechen können. Wir hatten nicht einmal die Gelegenheit gehabt über das zu reden, was er offenbar die letzten Monate und Jahre durchgemacht hatte.

Ich würde ihn nicht mehr umarmen können. Nie wieder. Auch sein Lachen würde ich weder hören noch sehen können.

Langsam sackte der Schock und tiefe Trauer machte sich in mir breit. Doch ich musste jetzt stark sein. Ich konnte jetzt nicht vor seiner Mutter weinen.

"Petra!", hörte ich eine tiefe Stimme und auch wenn ich sie schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr gehört hatte, wusste ich sofort, dass es die von Belas Vater war. Er lief auf Petra zu und Pepe übergab die zierliche Frau an ihren Mann.

Der Schmerz von Eltern, die gerade ihr Kind verloren hatten, war kaum zu ertragen. Sicherlich hatten sie gewusst, dass dieser Tag bald kommen würde, doch das machte es offensichtlich kein bisschen leichter loszulassen. Man sah, dass ihr Leben nie wieder das gleiche sein würde wie vorher.

Pepe legte seinen Arm um mich und drückte mich an sich. Ich sah, wie auch eher versuchte zumindest für die Eltern stark zu sein. Doch auch er hatte einen Freund verloren.

"Wir können Ihn noch einmal sehen und Abschied nehmen", ließ Belas Mutter ihren Mann wissen. Dann sah sie zu uns.

"Wenn ihr möchtet, könnt ihr das auch tun", sprach sie uns mit heiserer Stimme an.

Sofort schüttelte ich den Kopf.

Alleine die Vorstellung Bela tot auf einem Bett liegen zu sehen, ließ einen eiskalten Schauer über meinen Rücken laufen. Das, was Bela einmal ausgemacht hatte, gab es nicht mehr. Ich würde es nicht verkraften seine Leiche sehen zu können. Kalt, weiß-gräulich und leblos. So wollte ich ihn nicht in Erinnerung behalten.

"Ist schon gut", sagte Pepe. "Dieser Moment gehört allein euch."

"Überlegt es euch. Eine zweite Chance wird es nicht mehr geben, um sich zu verabschieden", sprach sie bitter. Dann nahm sie die Hand ihrer Mannes und führte ihn zum Fahrstuhl. Man konnte ihrer Gangart ansehen, dass sie nun eine gebrochene Frau war. Ihr Mann musste sie stützen.

Pepe und ich sahen uns vollkommen verzweifelt und geschockt an.

"Er ist nicht mehr da", flüsterte ich.

"Ich weiß", sagte er und nun kamen auch bei ihm die Tränen und vor allem die Erkenntnis, dass sein Freund nicht mehr da war. "Ich weiß." Seine Stimme wurde mit jeder Silbe zittriger und ich konnte spüren, wie viel Kraft es ihn kostete sich zusammenzureißen.

"Ich wünschte, er hätte es mir gesagt."

Pepe küsste mich auf die Stirn.
"Er wollte es dir sagen. Ihr wart am Wochenende verabredet, nicht wahr? Er hatte vor dir endlich alles zu erklären."

Meine Kinnlade klappte nach unten.

Morgen! Wir wären morgen verabredet gewesen. Ich hielt mir die Hände vor mein Gesicht, um meine Verzweiflung zu verbergen. Warum hatte man uns nicht noch diesen einen Tag geben können? Ich hätte mir nichts mehr gewünscht, als ein letztes Gespräch mit Bela, in dem wir über alles hätten reden können.

Plötzlich bildete sich in mir tiefer Hass auf die Situation. Warum hatte ich immer so ein Pech? Warum war das Leben nicht einmal auf meiner Seite? Warum musste ich mich immer durchkämpfen? Warum konnt es nicht einmal leicht sein? Ich wollte doch nichts mehr als ein paar letzte Momente mit meinem besten Freund. War das denn wirklich so viel verlangt?

Als Bela in mein Leben gekommen war, hatte mein Leben wieder so viel mehr Sinn gemacht, doch nun hatte ich Angst in das alte Loch zurückzufallen, in dem alles nur Grau und Schwarz war. er war mein Fels in der Brandung gewesen.

"Hey", sagte Pepe, als könne meine Gedanken lesen. "Ich weiß, dass das echt blödes Timing ist."

"Ja!", fuhr ich ihn an und hatte sofort ein schlechtes Gewissen deswegen. "Echt blöd von ihm, dass er heute stirbt."

Pepe sah über meinen Tonfall hinweg.

"Bela wollte dir alles erklären, aber natürlich wusste er schon sehr lange, dass er jeden Tag sterben könnte und deshalb hat er vorgesorgt. Er hat mir einen Brief gegeben, den ich dir in genau so einem Moment übergeben soll. Ich weiß nicht, was da drin steht, aber ich denke, ihm war es wichtig, dass du ihn liest."

Ich spürte, wie mein Herz sich bei dem Gedanken zusammenzog, dass ich Belas letzte Worte an mich lesen sollte. Ich wusste nicht, ob ich das konnte.

"Hast du den Brief hier?", erkundigte ich mich und sah zu Pepe auf.

"Ja, ich habe ihn mitgenommen, als ich den Anruf von Petra bekommen habe."

Er zog einen Umschlag aus seiner Jacke. Seine Hände zitterten heftig. Es tat mir so leid, ihn so zu sehen. Er litt gerade so viel mehr, als er zugeben wollte. Ich ging auf ihn zu und nahm ihn fest in den Arm und in dem Moment spürte ich, wie es aus ihm heraus brach. Er schien vollkommen in sich zusammenzubrechen und plötzlich war ich die Starke von uns beiden.

Er ließ sich auf die Knie fallen. Die Menschen um uns herum warfen uns mitleidige Blicke zu. Natürlich konnte man sich im Krankenhaus denken, warum jemand weinend zu Boden ging.

"Möchten Sie ein Glas Wasser?", hörte ich eine junge Stimme, die ich beim Aufblicken einer Krankenschwester zuordnet.

Pepe und ich schüttelten die Köpfe.

"Nein, danke." Dann wandte ich mich wieder Pepe zu, der mitleiderregend weinte. Noch nie zuvor hatte ich einen Mann gesehen, der so herzzerreißend weinte. "Wollen wir uns ins Auto setzen oder ein Stück spazieren gehen?"

Das hier war nicht der beste Ort, um emotional zu werden. Wir hatten mittlerweile die Aufmerksamkeit aller.

Er nickte schwach. Also packte ich ihn am Arm und richtete ihn auf. Mit seinem Ärmel wischte er sich die Tränen weg und versuchte sich wieder zu fangen, doch es war hoffnungslos. Ich war so fokussiert auf Pepe, sodass ich meinen eigenen Schmerz für einen Moment vergaß. Pepe hatte schon so viel für mich getan, jetzt musste ich für ihn da sein und mich mal hinten anstellen.

"Der Brief", sagte Pepe und hielt den Umschlag hoch.
"Den können wir im Auto lesen", beschwichtigte ich.

Es hatte keine Eile. Für Bela machte es keinen Unterschied mehr, ob ich ihn jetzt laß oder in einer Woche.

Er war tot. 

***

Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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