Kapitel 11 - Als die Bombe in mir platzte

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Auch wenn meine Gefühle vorerst unerwidert blieben, fühlte ich mich gut. Oder zumindest besser. Der Sport gab mir ein Selbstbewusst, das ich bis jetzt von mir selber noch nicht gekannt hatte. Es zeigte mir, was für eine Stärke in mir steckte. Ich schaffte auf einmal Dinge, die ich nicht für möglich gehalten hatte und das gab mir Mut. Ich war nicht die Versagerin, für die mich alle hielten.

Leider änderte es nichts an der Situation, dass mein Abi nach wie vor auf der Kippe stand. Tatsächlich hatte ich mich jedoch mehr mit Mathe beschäftigt, als je zuvor in meinem Leben. Sowohl Bela als auch Amirah, Vito und Pepe hatten mir in den letzten Tagen geholfen, wenn ich mal nicht weitergekommen war. Auf diese Weise hatte ich nun doch wieder Hoffnung geschöpft. Vielleicht konnte ich es wirklich schaffen. Es lag in meiner Hand. Ich allein war für mein Glück zuständig. Und wenn ich Abi machen wollte, dann musste ich mich eben anstrengen. So einfach war das!

Ich wollte das erste Mal in meinem Leben wirklich für etwas kämpfen. Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich etwas konnte.

Die Schule war für mich trotzdem kein Ort, an dem ich mich wohlfühlte. Alleine Charly, Mathilde und Dzana zu sehen, ließen meinen Magen krampfen. Aus Gewohnheit - und weil ich nicht allein sein wollte - stand ich jedoch trotzdem immer noch bei ihnen. und hörte mir ihre Lästereien und Angebereien an.

"Lilly, bleibst du bitte noch kurz?", ertönte die Stimme von Frau Alhani, nachdem sie den Deutschunterricht beendet hatte.

Ich bekam ein Flashback. Herr Thaler hatte sich ganz ähnlich ausgedrückt, als er mir nahe liegen wollte, dass ich das Abi doch besser wiederholen sollte. Ich hielte inne und sah sie verängstigt an.

"Was gibt es denn?"

Sie schien sich ebenfalls nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen und das konnte nichts Gutes bedeuten.

"Komm doch erst einmal zu mir nach vorne und setz dich."

Mit unruhigen Händen verstaute ich meinen Block in meinem Rucksack und ging zu ihr. Ich verzichtete jedoch darauf mich zu setzen.

Mittlerweile hatte auch der letzte Schüler den Raum verlassen. Frau Alhani sah mich musternd an.

"Ich habe mir deine Deutschklausur schon durchgelesen", begann sie. Dann machte sie eine Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, und sah mich schließlich mitleidig an. "Es wird nicht reichen, Lilly. Ich habe mit deiner Tutorin, mit dem Fachbereichsleiter und der Schulleitung gesprochen. Wir können dich leider nicht zum Abi zulassen. Dieses Jahr wird das nichts."

Ungläubig schüttelte ich den Kopf, während es schien, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen.

Ich fiel nur noch ins Nichts.

"Das können Sie nicht tun", flehte ich und kämpfte gegen meine Tränen an. "Ich weiß, dass ich dieses Schuljahr nicht gut war, aber ich pack das! Ich habe neuen Mut geschöpft. Wirklich! Sie können sich nicht vorstellen, wie fleißig ich in den letzten Tagen war."

Man sah ihr an, wie sehr sie mit mir mitfühlte.

"Es tut mir leid, Lilly, aber das ist nicht unsere Entscheidung. Du musst eine bestimmte Punktzahl erreichen, um zum Abi zugelassen zu werden. Das ist in deinem Fall leider nicht mehr möglich. So sehr wir es auch wollen, wir können dich nicht zur Prüfung zulassen. Aber lass den Kopf jetzt nicht hängen. Nutze den neuen Ehrgeiz, um nächstes Jahr durchzustarten. Es ist nicht schlimm das Abi zu wiederholen."

Doch das war es!

Sie hatte keine Ahnung! Meine Mutter würde einen Nervenzusammenbruch erleiden.

"Sie verstehen das nicht", sagte ich mit einem Anflug von Verzweiflung. "Meine Eltern haben keine Ahnung, dass ich so schlecht in der Schule geworden bin."

Sofort runzelte Frau Alhani die Stirn.

"Wieso wissen sie nichts? Gibt es bei euch Probleme in der Familie?"

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das dürfte alles nicht wahr sein! Gerade, wo ich das Gefühl gehabt hatte, endlich alles auf die Reihe zu bekommen, kam das.

"Nein, alles in Ordnung", log ich und versuchte tapfer zu sein.

Nicht weinen, Lilly! Fassade bewahren!

"Sicher?", hakte sie nach.

Ich nickte und spürte, dass ich gleich die Kontrolle über meine Emotionen verlieren würde.

"Entschuldigen Sie mich", sagte ich noch und lief aus dem Raum.

"Lilly, warte!", hörte ich noch die sanfte Stimme, doch ich gehorchte nicht.

Ich hasste mein Leben so sehr! Ich konnte einfach nicht mehr! Nicht noch eine Niederlage! Ich hatte es so satt. Ich wollte nicht mehr!

Wie sollte ich das meiner Mutter nur erklären? Sie würde keinerlei Verständnis haben. Sie würde mich als dumm und als Nichtsnutz darstellen. Ich konnte jetzt schon die pure Enttäuschung in ihrem Gesicht sehen. Das würde ich nicht ertragen. Ich ertrug mein Leben nicht.

Ich lief aus dem Schulgebäude. Wie der Zufall es wollte, lief ich genau in Dzana, Mathilde und Charly. Gezwungenermaßen blieb ich stehen.

"Was ist denn mit dir passiert?", erkundigte sich Dzana erstaunlich neutral.

Ich konnte es kaum aussprechen und musste er einmal laut schniefen, ehe ich einen Ton herausbringen konnte.

"Ich darf nicht zum Abi antreten", schluchzte ich.

Es auszusprechen war noch so viel schlimmer als es nur zu denken.

"Und das überrascht dich?", entgegnete Mathilde kühl.

Entsetzt sah ich sie an.

"Natürlich!"
"Das war doch absehbar. Deine Noten waren unterirdisch. Da brauchst du dich echt nicht wundern. Mit Fünfen wird man eben nicht zum Abi zugelassen."

In mir stieg eine Wut auf, die ich so noch nie zuvor gespürt hatte. Es war, als hätte man in mir eine Bombe gezündet.

"Ich dachte, ich könnte es vielleicht noch retten", versuchte ich nur ruhig zu sagen.
Mathilde lachte.

"Wie hättest du das denn noch retten wollen? Du lernst doch eh nie!"
Das war nicht wahr!

Die Wut in mir brach aus mir heraus. Ich hatte diese drei Mädchen so satt. Sie waren falsch und arrogant. Nicht einmal jetzt, wo ich eine Umarmung mehr als gebrauchen könnte, waren sie für mich da. An meinem tiefsten Punkt, machten sie mich nur noch kleiner. Ich hatte es so satt!

Meine Hand schnellte gegen Mathildes Wange. Der Schlag war nicht kraftvoll, doch es reichte, um sie in einen Schockzustand zu versetzen. Und diesen Moment konnte ich sogar für einen Bruchteil einer Sekunde genießen.

"Lass mich einfach in Ruhe! Ich bin durch mit euch!", rief ich wütend.

Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Gefühle überforderten mich. Während die drei noch im Schock da standen, nutzte ich die Gelegenheit weiterzurennen.

ganz offensichtlich hatte ich ja eh keinen Grund mehr diese Schule je wieder zu betreten. Denn mit Sicherheit würde ich nicht noch einmal ein Jahr hier ertragen.

Ich wusste nicht, wohin ich rennen sollte. Der letzte Ort, an den ich jetzt gehen wollte, war mein Zuhause. Es war für mich schon lange kein Ort der Sicherheit und Geborgenheit mehr.

Was war das für ein Leben, in denen mein Zuhause kein Ort der Zuflucht war?

Ich ließ mich auf meine Knie sinken und fing bitterlich an zu weinen. Ich war am Ende meiner Kräfte.

Wie sollte ich jemals mein Leben auf die Reihe bekommen?

***

Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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