Kapitel 14 - Pepe

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"Wow, bei dir ist heute ja noch mehr Power als sonst drin", ließ Pepe mich beeindruckten Gesichtsausdruck wissen, während ich wütend auf einen Boxsack einschlug.

"Ich habe einiges zu verarbeiten", ließ ich ihn wissen und schlug noch kraftvoller zu. In meinem Körper war so viel Wut.

"Ja, das sehe ich. Willst du drüber sprechen?"

Ich hatte stundenlang mit Bela jedes kleinste Detail ausdiskutiert. Es waren Tränen geflossen und viele Schimpfwörter waren gefallen. Doch letztendlich hatte ich Frieden mit mir finden können. Ich musste für meine Träume kämpfen, wenn ich aus diesem Strudel von Problemen endlich ausbrechen wollte. Selbstmitleid brachte mich nicht weiter.

Meine Faust traf hart gegen den Sack.

"Autsch!", fluchte ich, denn Schmerz durchzuckte mein Handgelenk.

Pepe brachte den Sack zum Stillstand und stellte sich davor, sodass ich seine Brust getroffen hätte, wenn ich noch einmal geschlagen hätte.

"Übertreib es nicht. Wenn du am Ende des Tages eine Handgelenksverletzung hast, ist auch niemandem geholfen."

Ich ließ meine Hände sinken und atmete durch. Das Training war eigentlich eh schon vor einer Stunde vorbei gewesen. ZUdem konnte ich spüren, wie meine Muskeln kurz davor waren zu krampfen.

"Komm", sagte Pepe schließlich. "Zieh dich um und wir treffen uns gleich im Gemeinschaftsraum. Dann kannst du mir gern von deinen Problemen erzählen. Aber dem Training machen wir für heute Schluss."

20 Minuten später saßen wir auf den Holzbänken in dem Hinterraum der Turnhalle. Erst jetzt spürte ich, wie schwach ich von der heutigen Einheit war. Selbst das Glas zum Trinken anzuheben, erschien mir plötzlich ein Kraftakt zu sein.

"Erzähl, was ist los?", fragte Pepe und nippte an seinem alkoholfreiem Bier.

"Ich brauche einen Job", sprach ich und nahm einen Schluck meiner erfrischend kalten Limo. Ich wollte mein ganzes Leid nicht noch einmal klagen. Im Moment lag mein Fokus darauf irgendwie Geld zu verdienen. Aus diesem Grund ersparte ich ihm den Rest der Leidensgeschichte.

"Okay, an was hattest du denn gedacht?"

Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern.

"Ich weiß es nicht. Es ist mir eigentlich egal. Hauptsache ich kann Geld verdienen. Ich habe mich auch schon ein bisschen umgesehen, aber ich fühle mich immer unterqualifiziert. Ich habe keinerlei Erfahrung."

"Also, wenn das so ist, dann kann ich dir womöglich sogar weiterhelfen. Ich jobbe nebenbei im Kino und da sind momentan zwei Stellen offen. Man bekommt zwar nur Mindestlohn, aber manchmal gibt Trinkgeld und man bekommt oft Popcorn umsonst. Das Team ist auch super. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen, wenn du magst."

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Hatte ich tatsächlich mal das Schicksal auf meiner Seite?

"Das wäre großartig! Aber wie gesagt: Ich habe wirklich keinerlei Arbeitserfahrung."

"Das ist nicht schlimm. Der Job ist wirklich kinderleicht. Die meisten von uns sind Studenten oder Schüler und für viele war es der erste Job. Du kannst wirklich nicht viel falsch machen. Ich kann gleich morgen nachfragen."

"Das würdest du wirklich tun? Du glaubst gar nicht, was das für eine Erleichterung für mich wäre!"

Er lächelte. Ich war immer wieder erstaunt, wie ein so großer und robuster Mensch ein so sanftes Lächeln habe konnte.

"Na klar. So eine Kollegin wie dich hat doch jeder gern im Team."

Flirtete er gerade mit mir? Oder war er einfach nur nett? Ich war mir nicht sicher. Aber wenn ich genau darüber nachdachte, würde ein Typ wie er sicherlich nicht mit einem Mädchen wie mir flirten. Er wirkte eher wie die Sorte Mann, die auf Blondinen mit großen Brüsten und schmalen Taillen stand. Und ich war genau das Gegenteil.

"Danke."

"Nicht dafür. Soll ich dich wieder nach Hause fahren?"

Da ich auf Pepes Heimweg wohnte, hatte es sich ergeben, dass er mich immer zuhause absetzte.

"Wenn es keine Umstände macht."

"Ach Quatsch. Und selbst wenn es ein Umweg wäre, würde ich dich trotzdem sehr gerne fahren."

Eine halbe Stunde später hielt der Wagen vor dem Haus meiner Eltern. Nur noch wenige Nächte würde ich in diesem Haus schlafen können. Die meisten Dinge, die wir behalten dürften, waren schon in Kisten verpackt. Alles andere ware bereits verkauft worden. Von Wohnlichkeit konnte schon lange nicht mehr die Rede sein.
"Schönes Haus", tappte Pepe ins Fettnäpfchen.

"Ja, das ist es wirklich." Ich liebte den Efeu, der an der Fassade rankte und die Fensterläden, die ich mit Papa grün angestrichen hatte. Ich mochte unsere Rosenbüsche im Vorgarten und den kleinen Balkon, der von meinem Zimmer abgeht. "Leider ziehen wir nächste Woche aus. Du brauchst mich dann auch nicht mehr mitnehmen. Ich wohne dann in der entgegengesetzten Richtung", informierte ich ihn und enthielt Pepe die grausamen Details vor.

"Oh, das tut mir leid. Ich fand unsere Fahrten immer sehr unterhaltsam." War das schon wieder ein Flirtversuch? "Warum verkauft ihr das Haus?"

Wenn ich ihm jetzt alles erzählen würde, würden wir hier wahrscheinlich noch ein paar Stunden in dem Auto sitzen.

"Lange Geschichte", ließ ich ihn wissen. "Erzähl ich dir ein anderes Mal."

"Okay, ich hätte aber auch Zeit, wenn du dein Herz ausschütten möchtest."
Ich spürte, wie er Blickkontakt mit mir aufbauen wollte, doch ich ergriff stattdessen nach dem Türgriff.
"Nein, es ist wirklich schon spät. Danke fürs Mitnehmen", sagte ich noch, ehe ich mich nach draußen schwang.

"Kein Problem. Mach's gut! Und ich halte dich wegen des Jobs im Kino auf dem Laufenden."
Ich lächelte ihn noch einmal dankbar an und ließ dann die Autotür zu fallen. Kraftlos lief ich zum Haus und bemerkte, dass Pepe noch nicht weggefahren war. Offensichtlich wartete er, bis ich sicher im Haus verschwand.

Erst als ich im Haus war und die Tür hinter mir geschlossen hatte, sah ich, wie das Auto wegfuhr. Ich musste mir eingestehen, dass das irgendwie süß war. Er wollte offenbar sichergehen, dass ich auch auf den letzten Metern nicht gekidnappt wurde.

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