Es dauerte Stunden bis ich mich nach Hause traute. Es war einzig der Regen und die Kälte, die mich dort hintrieben. Am liebsten wäre ich noch die ganze Nacht umher geirrt, nur um der Konfrontation mit meinen Eltern aus dem Weg zu gehen.
Als ich die Haustür öffnete, war es erstaunlich still. Das war selten, denn meist platzte ich in irgendeinen Streit hinein. Ich vermutete, dass niemand zuhause war. Es konnte mir nur recht sein.
Da ich bis in die Haarspitzen durchgefroren war, entschied ich mich, mir einen Tee zu machen, um mich ein wenig aufzuwärmen. Ich setzte noch mehr Wasser auf, um auch meine Wärmflasche befüllen zu können. Es würde vermutlich trotzdem Stunden dauern, bis ich wieder aufgetaut war. Meine Finger waren feuerrot und geschwollen durch die Kälte.
Ich griff gerade schwerfällig nach der Teeschachtel, als ich plötzlich ein leises Schluchzen hörte, das ausnahmsweise nicht von mir kam.
Erschrocken sah ich über den Küchentresen in das dunkle Wohnzimmer. Ich erkannte nur schemenhaft eine Gestalt auf der Couch.
"Mama?", fragte ich vorsichtig und schaltete das Licht an.
Sie saß da und wirkte noch elender, als ich es war. Sie hatte ihre Arme um die Knie geschlungen, ihre Mascara war im gesamten Gesicht verteilt und die Augen waren so rot, als hätte gerade ein Inhalierbad mit Zwiebelsaft gemacht. Sie wirkte wie ein kleines Kind und nicht wie die selbstbewusste Frau, als die ich sie kannte.
Ertappt sah sie mich an und versuchte sich die Tränen wegzuwischen. Es war vergeblich.
"Was ist passiert?", fragte ich sie entsetzt und ging auf sie zu.
Je näher ich ihr kam, desto schlimmer sah sie aus.
"Lilly, bitte geh und lass mich allein. Es geht schon."
Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, ich gehe nirgendwo hin. Was ist passiert? Geht Ava und Papa gut?" Zu meiner Erleichterung nickte Mama sofort. "Oma und Opa?", hakte ich weiter nach. "Geht es ihnen auch gut?"
"Es ist niemand gestorben", sagte Mama mit zittriger Stimme. Sie machte eine Pause, doch ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie mir gleich sagen würde, was passiert war. "Papa und ich haben entschieden uns zu trennen."
Sobald sie es ausgesprochen hatte, fing sie wieder an zu weinen und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Für sie schien es ein Weltuntergang zu sein.
Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann war das für mich weder eine überraschende noch eine negative Nachricht. Schon ewig hatte ich erwartet, dass dieser Tag kommen würde und insgeheim hatte ich ihn herbeigesehnt, denn ich ertrug diese Streitigkeiten nicht mehr. Vielleicht würde jetzt wenigstens ein bisschen Harmonie einkehren. Das ewige Rumgeschreie hatte möglicherweise endlich ein Ende.
"Das tut mir leid", sprach ich sanft und setzt mich neben Mama auf die Couch. Ich nahm ihre Hand und streichelte sie sachte. "Aber ihr habt doch eh nur noch gestritten. Da war doch schon lange keine Liebe mehr."
Mama sah zu mir auf. Ihr Blick war herzzerreißend.
"Es ist nicht nur das", schluchzte sie.
"Okay", sagte ich zögerlich. "Was ist denn noch passiert?"
Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Antwort darauf haben wollte.
"Die Firma", brachte Mama mit Mühe heraus. "Sie läuft nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Wir haben versucht sie zu retten, aber es sollte einfach nicht sein."
"Moment, was?", sprudelte es aus mir heraus. "Was meinst du damit?"
"Wir sind pleite", schaffte sie noch zu sagen und weinte dann wieder.Panik stieg in mir auf.
Pleite?
Ich war immer daran gewöhnt gewesen, dass ich all die Geschenke von meiner Wunschliste zu Weihnachten bekam und auch, dass wir zweimal im Jahr in den Urlaub fuhren. Nie hatte ich daran gedacht, dass sich das einmal ändern könnte.
"Mama, was heißt das? Was meinst du damit genau?"
Nun schaffte sie es nicht mehr mir ins Gesicht zu schauen. Stattdessen starrte sie auf den Boden.
"Wir werden das Haus verkaufen müssen. Papa hat schon alles vorbereitet. Der Kaufvertrag muss nur noch unterschrieben werden. Wir ziehen hier aus."
"NEIN!", rief ich voller Schreck. "Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht. Meine gesamte Kindheit hängt in diesen Wänden. Ihr könnt das doch nicht verkaufen!"
"Glaubst du ich will das?", fragte sie nun mit scharfem Unterton. "Wir haben wirklich versucht dieses Haus zu retten, denn glaube mir, uns bedeutete es mindestens genauso viel. Schließlich haben wir euch hier groß gezogen. Aber es geht nicht. Wir müssen jetzt überall sparen, wo es nur geht. Und ein Haus können wir uns einfach nicht mehr leisten.""Wo sollen wir denn jetzt wohnen?"
"Wir haben eine kleine Wohnung angemietet. Ava, du und ich werden dort einziehen. Papa zieht erst einmal zu Onkel Thomas."
Ich konnte gar nicht begreifen, was sie mir gerade sagte. Sie mussten es schon so lange wissen und erst jetzt teilten sie uns das mit? Das war absolut rücksichtslos. Sie stellten uns vor vollendete Tatsachen.
Wann hätte ich es überhaupt erfahren, wenn ich sie nicht heulend auf der Couch im Dunkeln gefunden hätte? Am Tag des Auszuges?
"Lilly, es gibt da noch etwas", fuhr Mama fort. "Wir mussten auch das Geld, das für deinen Führerschein gedacht war, nehmen, um Rechnung zu bezahlen. Und wir können demnächst auch erst einmal kein Taschengeld zahlen."
Ich verlor nun endgültig den Verstand.
"IHR HABT MEIN FÜHRERSCHEINGELD GENOMMEN?"
"Es ging nicht anders. Es tut mir leid", flüsterte sie voller Scham.
Ich hätte nie gedacht, dass dieser Tag noch schlimmer werden konnte. Doch das hier toppte alles. Ich hatte den Theoriekurs schon gebucht und bezahlt. Er würde nächste Woche anfangen.
Ich fühlte mich hintergangen und betrogen. Von den eigenen Eltern.
Schwungvoll erhob ich mich von der Couch. Ich wollte mir das Leid meiner Mutter nicht weiter ansehen. Schließlich interessierte sie sich auch nie für meine Gefühle. Sollte sie doch selber wissen, wie es war, wenn man plötzlich ganz alleine da stand.
"Lilly, bitte warte doch! Lass uns in Ruhe reden."
"Vergiss es!", zischte ich und griff nach der Donutschachtel, die auf der Anrichte stand. Ich brauchte jetzt keinen Tee mehr, sondern Zucker und zwar sehr viel.
Ich rannte die Treppe nach oben. Kaum war ich in meinem Zimmer angelangt, schloss ich die Tür hinter mit. Ich riss den Kartons mit den Donuts auf und begann sie sinnlos in mich hineinzustopfen. So wie ich es immer getan hatte, bevor ich Bela wiedergetroffen hatte.
Als die Schachtel leer war, plünderte ich das Fach mit meinen Süßigkeiten, die ich zu Ostern bekommen hatte. Ich fraß so lange, bis mir schlecht wurde. Es ging schon lange nicht mehr um Appetit oder Hunger. Nein, ich wollte mich einfach nur irgendwie von meinem Schmerz ablenken.
Erst als ich das Gefühl hatte mich gleich übergeben zu müssen, legte ich mich auf mein Bett und weinte.
***
Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly
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Meet me under the cherry tree
RomanceStatt ihre Teenager-Jahre zu genießen, schleppt sich Lilly von einem Problem zum nächsten. Ihre Eltern streiten nur noch, die Schulnoten sind schlecht, ihre Freunde falsch und ihren Körper formt sie schon lange nur noch mit Süßigkeiten. Als sie glau...