"Du warst die ganze Nacht weg. Kannst du dir vorstellen, was ich mir für Sorgen gemacht habe?"
Ich antwortete nicht und ging schnurstracks in mein Zimmer. Ich war eh nur hier, um meine Sachen zu holen. Ich hatte nicht vor noch eine weitere Nacht in dieser Wohnung zu schlafen.
"Lilly, jetzt warte doch mal!", sagte sie im sanfteren Ton, als sie merkte, dass ich sie ignorierte. "Es tut mir leid, okay? Das tut es wirklich! Mir hätte niemals die Hand ausrutschen dürfen."
"Ist sie aber!", entgegnete ich noch immer wütend.
Manche Dinge dürften einfach nicht passieren. MIr würde es schließlich auch nie in den Sinn kommen sie zu ohrfeigen.
"Ja, und es war falsch. Ich war überfordert und habe falsch reagiert. Bitte, Lilly. Das kommt nie wieder vor! Du weißt, dass ich so eine Mutter nicht bin."
Ich hielt inne und sah sie an.
Ja, ich musste zugeben, dass meine Mutter tatsächlich nicht von der Sorte Mensch war, die ihre Kinder schlug. So fies sie auch manchmal mit ihren Worten sein konnte, gewalttätig war sie nicht.
"Es ist nicht nur die Ohrfeige, Mama! Es ist alles! Ich habe die letzten Jahre so sehr gelitten, weil mir immer eingeredet wurde, dass ich nicht gut genug bin. Vor allem, dass ich nicht dünn genug bin! Weißt du wie sehr mich das zurückgeworfen hat? Während andere in meinem Alter wie selbstverständlich durch die Welt laufen und alles ausprobieren, muss ich mir mein Selbstbewusstsein hart erkämpfen, weil ihr mich stets klein gehalten habt. Weil ihr nie an mich geglaubt habt."
Ich spürte, wie ich emotional wurde, doch ich riss mich zusammen."Ach Schätzchen, das stimmt doch so nicht."
"Doch! Australien ist das beste Beispiel. Anstatt mich zu unterstützen war deine erste Reaktion mir zu sagen, dass ich mich das eh nicht traue! Und das zieht sich schon durch mein ganzes Leben!"Ich sah Mama an, dass sie widersprechen wollte, doch sie schloss den Mund wieder und sah mich nachdenklich an.
Sie atmete tief durch. War das so etwas wie Einsicht in ihrem Gesicht?
"Es tut mir leid", lenkte sie schließlich ein. "Ich bin nicht perfekt. Ich versuche wirklich eine gute Mutter zu sein, aber ich habe sicherlich nicht immer alles richtig gemacht. Es tut mir leid, falls ich dich damit verletzt habe."
Ich dachte an all die Momente zurück, in denen ich weinend in meinem Zimmer gesessen hatte, weil meine Eltern mir mal wieder einen Spruch an den Kopf geworfen hatten. Das konnte ich nicht so leicht verzeihen, denn es hatte mir nahezu meine gesamte Jugend gekostet.
"Beweis es und mach es in Zukunft besser!"
"Ich geb mein Bestes", versprach sie, doch ich hatte meine Zweifel, dass sie sich ändern würde. "Kann ich jetzt eine Umarmung haben und wir vertragen uns wieder?"
Widerwillig ließ ich es geschehen, dass meine Mutter mich in ihre Arme schloss. Es war einfach zu spät dafür. In den letzten Jahren hatte ich mir so oft eine Umarmung von meiner Mutter gewünscht, doch ich hatte sie nie bekommen. Ich wäre fast daran kaputt gegangen. Liebesentzug war etwas Grausames.
Mama strich mir eine Träne von der Wange.
"Alles wieder gut?", fragte sie.Nichts war gut. Zumindest nicht, was unsere Familie betraf.
"Hmm."
"Willst du mir erzählen, wo du heute Nacht warst? Von Papa weiß ich nämlich, dass du nicht bei ihm übernachtet hast."
Ich schüttelte entschieden den Kopf. Mein neues Liebesglück würde ich mir von meiner Mutter nicht schlecht reden lassen. Ich wusste jetzt schon, dass sie etwas auszusetzen haben würde. Sie fand immer etwas zu bemängeln.
"Nein, will ich nicht erzählen."
"Ach komm schon! Du hast einen Freund, oder?"
Warum konnte sie es nicht einfach dabei belassen, dass ich nicht darüber reden wollte.
"Ich will nicht darüber reden, Mama. Bitte akzeptiere das einfach!"
Sie seufzte enttäuscht.
"Okay, über Verhütung muss ich mit dir aber nicht mehr sprechen, oder?"
Ich rollte theatralisch mit den Augen.
"Um Gottes Willen! Lass mich einfach in Ruhe!"
"Ich mach mir ja nur Sorgen."
"Brauchst du nicht", brummte ich und packte ein paar Dinge in meinen Rucksack, die ich bei Pepe gebrauchen würde.
"Schläfst du diese Nacht auch nicht hier?"
"Nein."
"Aber warum denn nicht?""Weil ich nicht will, okay?", fuhr ich sie nun genervt an. "Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr so oft sehen. Du tust mir einfach nicht gut!"
Mama senkte ihren Kopf und Tränen fielen auf den alten Teppichboden. Manchmal vergaß ich, dass sie gerade nicht nur pleite gegangen war, sondern auch eine Scheidung durchmachte und ihr Mann sie betrogen hatte. Auch sie hatte es nicht leicht."Sorry, das war vielleicht ein bisschen hart ausgedrückt. Aber ich glaube, dass uns ein bisschen Abstand ganz gut tut würde."
Tapfetr schluckte sie ihre Tränen herunter und nickte.
"Willst du mir aber nicht wenigstens sagen, wo du bist? Ich mache mir sonst wirklich Sorgen."
"Brauchst du nicht! Ich bin in guten Händen. Und du kannst mir jederzeit schreiben."
Sie sah unglücklicher denn je aus. Vermutlich weil sie gerade realisierte, wie sehr sie sich von ihrer Tochter entfremdet hatte.
Plötzlich klingelte mein Telefon. Verwundert sah ich auf mein Display. Ich bekam fast nie Anrufe.
Es war Pepe. Das war ungewöhnlich. Er rief mich nie an.
"Hey, alles in Ordnung?", meldete ich mich und befahl meiner Mutter mit einer Handbewegung mein Zimmer zu verlassen. Ich schloss die Tür hinter ihr.
"Lilly, bist du zuhause?", sprach er gehetzt ins ins Telefon.
Seine Stimme war anders als sonst. Ernst und besorgt. Diese freundliche Leichtigkeit, die er sonst hatte, fehlte.
"Ja, ich wollte aber gleich wieder los. Warum? Was gibt es? Ist es alles okay?"
Es folgte eine lange Pause, die mich nichts Gutes ahnen ließ.
"Nein, Lilly. Es ist nichts okay. Gar nichts. Ich bin in 5 Minuten bei dir und hol dich ab. Schaffst du es bis dahin fertig zu sein?"
Irritiert starrte ich mein Handy an. Ich bekam es ein wenig mit der Angst zu tun. Was hatte das zu bedeuten?
"Pepe, was ist denn passiert?"
"Ich erkläre es dir gleich! Ich will es dir nicht am Telefon sagen. Sei in 5 Minuten einfach vor der Haustür."
"Okay", sagte ich zögerlich und bekam ein sehr ungutes Gefühl.
"Bis gleich!"
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Meet me under the cherry tree
RomanceStatt ihre Teenager-Jahre zu genießen, schleppt sich Lilly von einem Problem zum nächsten. Ihre Eltern streiten nur noch, die Schulnoten sind schlecht, ihre Freunde falsch und ihren Körper formt sie schon lange nur noch mit Süßigkeiten. Als sie glau...