Kapitel 6 - Wenn Mathe der bessere Kumpel ist

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Tatsächlich hatte Bela es geschafft mich zu motivieren. Zwar war aufgrund des bestialischen Muskelkaters nicht einmal an Sport zu denken, doch statt Nutella schmierte ich mir nun Frischkäse auf mein Brot und krönte es mit einem Salatblatt. Meine Apfelschorle wurde durch Mineralwasser ersetzt. Es waren vielleicht nur kleine Schritte, aber immer fing ich an.

Vielleicht war das hier wirklich der Beginn von etwas Großem. Doch aus Erfahrung wusste ich, dass ich schon öfter an so einem Punkt gewesen war.

Ab morgen wird alles anders... Dann fängt mein neues Leben an... Wer kannte das nicht?

Trotzdem blieb ich standhaft. Man sollte schließlich nie aufgeben, selbst wenn man ständig versagt. Immer einmal mehr aufstehen als hinfallen. Das war der Weg zum Erfolg. Wenn ich einfach liegen bleiben würde, brauchte ich mir nicht einmal Hoffnung auf Besserung machen.

Als der Freitag kam, hatte ich weder eine Tafel Schokolade vernichtet, noch eine Tüte Chips in meinem Bauch versenkt und darauf war ich mächtig stolz. Es ging nicht einmal um das Abnehmen, sondern viel mehr um die Tatsache, dass ich durchgehalten hatte und anscheinend doch so etwas wie innere Stärke besaß.

Meinen sogenannten Freundinnen schien jedoch nicht aufzufallen, dass ich heute das erste Mal Salat als Mittag mit in die Schule gebracht hatte und mein Dessert aus Walnüssen und Wassermelone bestand. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie sahen mich überhaupt nicht mehr.

Wir saßen in unserer Kantine und alle redeten wild durcheinander. Nur ich schien nicht zu Wort zu kommen.

"Der Typ vom Bowlen hat mir geschrieben", erzählte Dzana.

Man konnte ihr ansehen, wie sehr sie nach den neidischen Blicken der anderen gierte.

"Wirklich?", fragte Charly aufgeregt und klimperte mit ihren künstlichen Nägeln. "Was hat er geschrieben?"

In meinem Kopf begann es zu rattern.

"Wann ward ihr denn bowlen?", unterbrach ich sie.

Ich spürte, wie sofort alle inne hielten. Sofort war mir klar, was los war. Sie hatten es vor mir geheim halten wollen, doch nun war es ihnen herausgerutscht.

"Ach, du magst du doch eh kein Bowling", tat Dzana es beiläufig ab.

"Ihr habt mich doch nicht einmal gefragt", gab ich verletzt zu.

Wie so oft hatten sie mich ausgeschlossen.

Dzana verdrehte die Augen.

"Ja, weil du eh nein gesagt hättest."

"Das weißt du doch gar nicht", protestierte ich sofort, denn ich hasste es, mit welcher Arroganz sie mit mir sprach.
Dzana zuckte emotionslos mit den Achseln und fuhr dann ihren Monolog über den Jungen, der sie angeschrieben hatte, fort.

Ich wurde derweil immer kleiner auf meinem Stuhl. Das waren doch keine Freundinnen. Und das schon sehr lange nicht mehr. Die traurige Wahrheit war, dass ich nur noch mit ihnen an diesem Tisch saß, weil ich niemand anderen an dieser Schule hatte.

Wie verzweifelt war ich eigentlich?

Ich schluckte meinen Schmerz herunter und versuchte mir meine gekränkte Seele nicht anmerken zu lassen. Selbst wenn man es mir ansehen würde, würde es eh keine interessieren.

Ich war ausnahmsweise froh, als die Pause endlich ein Ende fand. Doch meine nächste Hürde lautete Mathematik. Zwar besser als drei falsche Freundinnen, aber deshalb noch lange nicht mein bester Kumpel.

"Lilly", begrüßte mich mein Lehrer Herr Thaler, als ich den Raum betrat. "Können wir nach dem Unterricht noch reden?"

Sein Gesicht sagte mir, dass es ernst war.

"Ja", sagte ich knapp und begab mich zu meinem Platz.

Sofort spannte sich mein gesamter Körper an. Es konnte nichts Gutes sein, was er mir mitteilen wollte.

Während des Unterrichts konnte ich mich noch weniger konzentrieren als sonst. Meine Gedanken drehten sich nur um das, was Herr Thaler mir sagen könnte. Mathe war mein schwächstes Fach und die letzte Klausur hatte ich komplett verhauen.

Schließlich war auch diese Stunde überstanden. Ich wartete bis alle aus dem Raum waren und ging dann zu ihm nach vorne. Seine Stirn lag in tiefen Falten. Herr Thaler war einer von den engagierten Lehrern, die in seinen Schülern echtes Potenzial sahen. Nur leider hatte ich keins und das wusste er genauso gut wie ich.

"Wie geht es dir?", tastete er sich vor.

Ich wünschte, er würde sofort zum Punkt kommen.

"Nervös", antwortete ich ehrlich.

Er seufzte, denn er wusste, dass es berechtigt war. Das konnte ich ihm an der Nasenspitze ansehen.

"Lilly", sprach er nun ernst. "Deine letzte Klausur war leider auch nicht besser als die davor."

Ich ließ meinen Kopf hängen.

Noch eine 5. Oder vielleicht auch eine 6. Das war nicht gut.

"Okay."
"Ich denke nicht, dass es viel Sinn macht unter diesen Voraussetzung ins Abi zu gehen."

Ich wusste, dass er Recht hatte. Doch es ausgesprochen zu hören, versetzte mich in Panik. Meine Eltern würde das nicht verkraften. Die Situation zuhause würde noch mehr eskalieren, wenn das überhaupt noch möglich war.

"Ich schaffe das schon irgendwie", klang ich wenig überzeugt.

Gequält sah er mich an. Natürlich wollte er mir nicht den Mut nehmen, doch manchmal war Realismus angebracht.

"Okay", sagte er. "Aber dann musst du jetzt wirklich hart daran arbeiten. Du hast wirklich viel Stoff aufzuholen. Das ist kein Kinderspiel."

Ich nickte, wusste jedoch, dass ich diese Kraft nicht hatte. Und Herr Thaler war das auch bewusst.

"Ja, mach ich. Danke!"

Dann verließ ich den Raum mit Tränen in den Augen. Ich fühlte mich wie die letzte Versagerin. So viele schafften ihr Abi. Selbst die größten Idioten. Nur ich nicht.

Ich brauchte für den Heimweg doppelt so lange wie sonst. Ich wollte meinen Augen genug Zeit geben, um sich erst auszuheulen und dann wieder abzuschwellen und die Rötung loszuwerden.

Ich lief durch die Straßen und fühlte mich einfach nur verloren. Was machte ich hier auf dieser Welt? Warum war ich hier? Was war meine Bestimmung?

Ich lief an all den wunderschönen Häusern vorbei.

Diese Leute hatten es geschafft, dachte ich. Sie haben ein Haus, ein Job und eine Familie.

Das war schon so viel mehr als ich hatte oder wohl je haben würde. Ich bekam nichts auf die Reihe. Weder Schule, noch Freunde, noch Familie.

Ich konnte es kaum erwarten Bela morgen zu treffen. Er war der einzige, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er in mir mehr als nur ein Nichtsnutz sah.

Als ich nach Hause kam, wurde ich mit Schreien begrüßt. Mamas Kopf war tiefrot und Papas Halsschlagader pulsierte. Sie merkten nicht einmal, dass ich gerade zur Tür herein gekommen war.

"DU HAST GESAGT, DU KÜMMERST DICH!", brüllte meine Mutter voller Hass.

"ABER DU HAST AUCH VON DEM TERMIN GEWUSST! DU HÄTTEST MICH ERINNERN KÖNNEN!", brüllte er zurück.

Manchmal hatte ich das Gefühl, ich gewöhnte mich an den Umgangston meiner Eltern. Und dann gab es Tage wie heute. Tage, an denen ich das Gefühl hatte mit ansehen zu müssen, wie mein ganzes Leben direkt vor meinen Augen zerbrach bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück und schmiss mich in mein Bett. Neue Tränen kamen. Ich versenkte sie in meinem Kopfkissen. 

***


Lillys Instagram Account: upsanddownsoflilly

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