Kapitel 4 - Hirtentäschel und Herzpflanzen

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Ich drehte mich hektisch um und erstarrte.

So hatte ich mir Bela nicht vorgestellt. Er war immer sehr dünn und mager gewesen, doch damit hat dieser Körper rein gar nichts mehr zu tun. Vor mir stand ein wahres Kraftpaket, das sich nur von Proteinshakes zu ernähren schien.

Doch die Augen waren die gleichen. Irgendwie schienen sie immer zu lächeln und daran hatte sich auch in 10 Jahren nichts geändert. Sie hatten trotz des sehr männlichen Körpers noch etwas kindliches.

"Hallo", sagte ich schüchtern, als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Dabei hatten wir schon viele Nächte zusammen in einem winzigen Zelt verbracht und uns die intimsten Geheimnisse, die Kinder haben konnten, erzählt.

Seine Mundwinkel zogen sich nach oben.

"Du bist also wirklich gekommen", sprach er mit erschreckend männlicher Stimme. Er bückte sich, hob mein Handy auf, das mir eben aus der Hand gefallen war und gab es mir. "Ich dachte schon, ich würde hier allein auftauchen."

Schüchtern lächelte ich ihn an und nahm mein Mobilfunkgerät zurück. Unsere Finger berührten sich für einen kurzen Augenblick. Ich zuckte sofort zurück.

Er sah wirklich gut aus. Das hatte ich nicht erwartet. Nicht in diesem Ausmaß. Er sah aus, als würde er die große Kampagnen in Paris abstauben.

"Danke", nuschelte ich. "Ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet, dass du heute hier auftauchst."

Er sollte mir vertraut sein, doch das war er nicht. Ich fühlte mich komplett fehl am Platz und wusste nicht, was ich sagen sollte. Small Talk war leider nie eine Stärke von mir gewesen. Long Talk leider auch nicht. Ich war grundsätzlich nicht so der gesprächige Typ, wenn ich in Kontakt mit Fremden war.

"Es ist wirklich schön dich zu sehen", versuchte er die Initiative zu übernehmen. "Ich hatte übrigens schon die Befürchtung, dass der Baum nicht mehr stehen würde. Wusstest du, dass Kirschbäume nur etwa 50 Jahre alt werden? Und der war damals schon uralt."

Er sah zu dem Baum, der in voller Blüte stand. Ein paar schneeweiße Blütenblätter rieselten auf uns hinab. Es hat etwas Magisches.

"Er hat sich gut gehalten", blieb ich wortkarg und machte es Bela damit nicht einfacher. Man spürte, dass er ein deutlich selbstbewussterer Mensch war als ich. Er schien neue Situationen nicht zu fürchten. Jedoch schien ihn meine zurückgehaltene Art zu irritieren.

"Hast du Lust auf einen Spaziergang?", fragte er schließlich und gab nicht auf, Lockerheit in die Situation zu bringen.
"Klar", kam es viel zu schnell über meine Lippen.

Wollte ich wirklich mit ihm in durch den Wald laufe? In unangenehmer Stille?

"Na dann los", sagte er motivierend und setzte sich in Bewegung.
Mit dem Blick auf den Boden gerichtet folge ich ihm.

"Wie geht es dir denn?", erkundigte er sich, während wir uns in den kühlen Schatten der Bäume begaben. Vielleicht war ein Kleid doch nicht die beste Wahl gewesen.

"Gut", log ich. Mir war bewusst, dass ich es ihm gerade wirklich nicht leicht machte. Aber was sollte ich sagen? Mir ging es nicht gut. Aber ich wollte ihm auch nicht mein Herz ausschütten. "Wie geht es dir denn?", stellte ich die zu erwartende Gegenfrage. "Wohnst du noch in der Nähe? Ich habe dich ewig nicht gesehen."

Bela freute sich, dass ein paar mehr Worte über meine Lippen kamen. Er war schon immer jemand gewesen, der die kleinen Dinge des Lebens schätzen konnte.

"Ja, es geht mir gut. Ich bin von hier weggezogen, aber ich lebe in Berlin. Also nicht wirklich weit weg." Unsere Stadt lag im Speckgürtel von Berlin und wir konnten innerhalb weniger Minuten zu Fuß über die Stadtgrenze gehen. "Ich bin nach dem Mittleren Schulabschluss von der Schule abgegangen und habe mich als Personal Trainer selbstständig gemacht. Und das läuft wirklich gut", erzählte er locker. "Ich mag meinen Job wirklich sehr gern."

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