2. Kapitel - Wesley Adams

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Mein Blick wandert zu dem dichten Schneefall vor dem Fenster und meine Lippen verlässt ein Seufzen. Ich will raus. Ich will im Schnee tanzen und mein Leben genießen! Aber nein. Ich bin an das Bett gefesselt und werde es auch noch eine Weile bleiben. Ich fühle mich so unfassbar gefangen. Sofort ergreift meine Mutter, die neben mir am Bett sitzt, meine Hand. »Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Aber du schaffst das.« Versichert sie mir. Ich sehe sie nicht an. Ich kann sie einfach nicht ansehen. Natürlich, irgendwie werde ich das schaffen, irgendwie. Ich glaube, sie versteht einfach nicht, dass ich meine Zeit brauche, um das alles zu akzeptieren.

Direkt nach dem ich die Diagnose bekommen habe, habe ich meine Eltern und Nelly aus dem Zimmer geschickt. Vermutlich habe ich allen voran meiner Mutter damit das Herz gebrochen. Sie war schon immer jemand, der alles für ihre Kinder getan hätte. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass sie so für mich da sind. Aber das meine Mutter in den letzten zwei Tagen kaum von meiner Seite gewichen ist und hätte vermutlich sogar an meiner Seite geschlafen, wenn mein Vater sie nicht überzeugt hätte, mit in das Hotel zu gehen. Das ist einfach zu viel. Trotz allem sieht sie völlig fertig aus. Ihre langen roten Locken hängen kraftlos über ihren Schultern und ihre grünen Augen sehen so voller Sorge aus. Ich weiß sehr wohl, dass sie sich diese um mich macht. Sie erkennt ihren lebensfrohen Sohn wohl nicht wieder.

Mein Vater tritt in das Zimmer und lächelt mich an. Er scheint es besser als meine Mutter zu verkraften. Wieso müssen Angehörige eigentlich auch etwas verkraften? Das Einzige, was sie ertragen müssen, ist ja, wie sich der Patient verändert. Wohin gegen der Patient Schmerzen hat und sich sein Leben durch eine Diagnose so verändert. Aber ich sterbe ja nicht. Also zu mindestens habe ich das nicht vor. Zu mindestens nicht so bald. Ich will ja erleben, wie Nelly ihren Abschluss macht und ihren ersten Freund oder Freundin mit nach Hause bringt. Oder Partner. Hauptsache, sie wird glücklich und da das hoffentlich in den nächsten 10 Jahren nicht passieren wird, habe ich noch Zeit.

Mein Vater tritt an mich heran und reicht mir zwei ziemlich dicke Bücher. »Hier, falls du Langeweile bekommst.«, erklärt er mit einem Lächeln. Seine Hand fährt durch meine roten Locken und sieht zu meiner Mutter. Ich kann ihm ansehen, wie er ein Seufzen unterdrückt. Dann sieht er wieder mich an. »Ist Elliot nicht damals nach Boston gezogen?« Fragt er mich. Als ich diesen Namen höre, zieht sich alles in mir zusammen. Ich nicke langsam und sehe meinen Vater nicht an. Ich weiß, was kommen wird. Er wird fragen, ob ich eine Nummer von ihm habe oder sonst irgendwie mit ihm in Kontakt treten kann. »Vielleicht wäre das eure Gelegenheit, euch wieder zusehen.«, schlägt er vor. Ich schüttle den Kopf. »Seine Nummer von damals ist gesperrt und er hat bei dem Spiel nicht mitgespielt.« Mein Vater sieht enttäuscht aus. Ich weiß, wie gerne er meinen früheren besten Freund hatte.

»Komm Molly, wir gehen in Cafeteria, was essen.«

»Aber Wes...«

»Wes ist 22 Jahre alt. Er wird es wohl eine halbe Stunde ohne seine Mutter an seiner Seite schaffen.«

Der Blick meiner Mutter liegt auf mir. »Geh nur. Ich komm klar.« Sie nickt und steht auf. Mein Vater greift nach ihrer Hand und küsst sie auf die Schläfe. »Nelly, kommst du mit?« Meine kleine Schwester hebt von ihrer Zeichnung den Kopf und schüttelt den Kopf. Meine Mutter seufzt und verlässt trotzdem zusammen mit meinem Vater mein Krankenhauszimmer. Während meine kleine Schwester weiter malt, sehe ich mir die Bücher an die mein Vater mir mitgebracht hat. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich sehe, dass er mir zwei Bücher über Geschichte mitgebracht hat.

»Wes?« Ertönt die Stimme des kleinen Rotschopfs neben mir. Die Fünfjährige klettert wie so oft in den letzten zwei Tagen zu mir in das Bett. Ich würde ihr gerne etwas mehr Platz machen, aber da ich nicht mal meinen Hintern anheben kann, kann ich für sie auch nicht zur Seite rutschen. »Schau, was ich für dich gemalt habe.« Sie zeigt mir das Bild. Auf dem Bild ist eine Familie zu sehen, alle haben rote Haare. Ich grinse in mich hinein. Neben uns sitzt etwas, was wie ein Hund aussieht und die kleinste Person, welche wohl sie selbstdarstellen soll, hat einen Hasen in der Hand. Eben dieser Hase sitzt auf meiner Brust. »Ich mag die roten Haare. Das ist wirklich schön, Lehrling.«, ich küsse sie sanft auf die roten Haare. »Schau das ist Dad und da ist Mum. Und da bist du und Alex. Da bin ich mit Mr. Puschelohr.« Erklärt sie mir und ein Strahlen geht dabei über ihr Gesicht. Ich glaube, sie ist der einzige Grund, warum dieser Aufenthalt einigermaßen erträglich ist. Wäre sie nicht hier... Ich weiß nicht, wie es mir hier gehen würde.

Ich denke, sie versteht das alles noch nicht so ganz. Und schon gar nicht versteht sie, warum ich jetzt hier bin. Sie hat zwar gesehen, wie ihr großer Bruder hingefallen ist und dann auf ihn eingetreten wurde. Aber vielleicht versteht sie es doch. Ich habe keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. Sie kann ein ganz schöner Dickschädel sein. »Ich schenke dir das Bild.« Sie setzt sich auf und dreht sich zu mir. Auf ihr Gesicht sieht todernst aus, so ernst, dass ich fast anfangen muss zu lachen, aber ich reiße mich zusammen. Wortlos reicht sie mir Mr. Puschelohr. Ich mustere ihren hellbraunen Hasen, der schon einiges miterleben musste.

»Ich möchte das du Mr. Puschelohr bekommst. Er soll auf dich aufpassen. Das dir nicht noch mal so was passiert.«, erklärt sie mir ernst. Überrascht sehe ich sie an und sehe dann auf den Hasen in meiner Hand. »Lehrling, ich kann Mr. Puschelohr nicht nehmen, du kannst ohne ihn nicht schlafen.« »Er möchte aber auf dich aufpassen.« »Ich kann ihn ni-«, beginne ich und sehe das sich in den Augen von Nelly Tränen bilden. Ich hasse es, wenn sie Tränen dazu einsetzt, ihren Willen durchzubekommen. »Nicht weinen. Ich nehme ihn. Aber wenn du nicht schlafen kannst, nimmst du ihn bitte wieder. In Ordnung?« Sie wischt sich mit den Ärmeln über das Gesicht und nickt. »In Ordnung.« Ich setze Mr. Puschelohr auf meinen Nachtisch. »Er muss heute Nacht bei dir im Bett schlafen und er hat Angst im Dunkeln.« Ich nicke und höre ihr zu, was ich alles beachten muss, wenn der Hase bei mir schläft. »Ich versuche alles so umzusetzen. Ich hoffe, Mr. Puschelohr ist mir nicht allzu böse, wenn ich aus Versehen etwas mache, was er nicht mag.« Nelly versichert mir, dass es nicht schlimm sei und ihr das auch manchmal passiert. Sie kuschelt sich in meine Arme und schläft nach einiger Zeit ein.

Ich greife nach einem der Bücher, die mein Vater mir mitgebracht hatte und beginne darin zu lesen. Als sich die Türe öffnet, richte ich meinen Blick auf diese. Ich mustere meine Eltern, die neben einem Mann stehen, der Safrangelb und orange gekleidet ist. Der grüne Schal macht das Outfit noch schräger. »Ich bin Doktor Ezekiel Bloom. Ich bin Psychologe und deine Eltern meinten, dir würde es guttun, wenn du mit mir reden würdest.« Stellt er sich vor. Aber ich sehe ihn schon gar nicht mehr an, stattdessen sehe ich meine Eltern schockiert an. Mir geht es gut. Mir geht es super. Bis auf die Tatsache, dass ich meine Beine nicht bewegen kann. Scheiße, ich kann meine Beine nicht bewegen! Ich wende meinen Blick von meinen Eltern ab und sehe wieder aus dem Fenster, der Schnee fällt immer noch. »Ich wusste, dass es keine gute Idee war.«, höre ich meine Mutter leise sagen. »Würden Sie uns bitte allein lassen. Die ersten Gespräche finden für gewöhnlich ohne Familienangehörige statt.«, erklärt der Doktor, den ich keines Blickes würdige.

Ich werde mit ihm bestimmt nicht reden! Ich brauche die Hilfe nicht. Mein Vater kommt zu mir und hebt vorsichtig die schlafende Nelly aus meinen Armen und verlässt dann mit meiner Mutter den Raum. Ich nehme aus dem Augenwinkel wahr, wie er sich auf den Stuhl am Bettende setzt und mich beobachtet. »Rückenmarksprellung. Mindestens sechs Wochen ans Bett gefesselt. Ist für einen Astronomiestudent wohl die Hölle oder?« Ich antworte nicht und starre weiter aus dem Fenster.

Der Doktor seufzt, »Okay Wesley« »Wes« unterbreche ich ihn. »Wes. Ich verstehe, dass du nicht mit mir reden willst. Du bist nicht der Einzige, der nicht mit mir redet. Ich habe seit einer Weile hier ein Projekt am Laufen. Du bekommst einen Brief von einem dieser Leute, die nicht mit mir reden wollen und antwortest auf diesen. Die Regeln sind folgendermaßen: Es läuft komplett anonym, das heißt keine Namen, weder von dir noch von deinen behandelnden Ärzten. Du wirst mit jemandem von einer anderen Station schreiben, damit ihr euch auch sicher noch nie begegnet seid. Ob ihr euch eure Diagnosen mitteilen wollt oder nicht, liegt bei euch. Ich werde die Briefe nicht lesen. Und du wirst antworten, verstanden? Schreibst du die Briefe, werde ich nur die Briefe holen und dir bringen. Tust du werde ich zu deinem Psychologen und du wirst mir viele Fragen beantworten müssen.« Ich sehe ihn nicht an, sondern starre weiter aus dem Fenster.

»Deal?« »Deal.«

Lieber schreibe ich einem Fremden oder einer Fremden, die ich nie sehen werde, als mit einem Psychologen, der womöglich noch mit meinen Eltern spricht. Nein, danke.

»Wenn das so ist, hier ist dein erster Brief.« Er reichte mir den Brief und betrachtete den Umschlag nachdenklich. »Wir sehen uns Wes.«, verabschiedet er sich und ich mustere den Brief. Ich drehe ihn in meinen Händen und öffne ihn schließlich. Nachdem ich das Blatt auseinandergefaltet habe, beginne ich diesen zu lesen.

Puck you!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt