30. Kapitel: "Warum kann es so nicht immer sein?"

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Mit der einen Hand fahre ich durch Paris lange Haare, die andere zeichnet jede Kurve ihres Körpers nach. Sie schaut mich an, unverwandt. Die Ruhe, die sie ausstrahlt, hat sich vollständig auf mich übertragen. Ich habe mir Szenen wie diese in den letzten Monaten tagtäglich vorgestellt, und ich habe dieses Gefühl vermisst: in ihrer Nähe zu sein, angenommen und akzeptiert – gewollt. Jetzt ist es noch so viel stärker, als ich es mir in meinem Kopf ausgemalt habe. So stark wie in Paris. Und ich habe Angst wie in Paris. Angst, dass sie geht, mich zurücklässt mit der schmerzlichen Sehnsucht, der Gier nach ihrer Aufmerksamkeit ...
Ich verliere mich in einem endlos langen Kuss. Erst als uns beiden die Luft ausgeht, lassen wir voneinander. Sie liegt auf mir, sieht wieder auf mich herab und obwohl sie ein ganzes Stück kleiner ist als ich, bin ich derjenige, der hier gerade der Unterlegene ist.
„Du hast doch was", bricht sie schließlich unser einvernehmliches Schweigen. Ich wickle eine ihrer Haarsträhnen um meinen Finger, starre nachdenklich darauf, als ich antworte: „Es ist irgendwie seltsam, dass du wieder da bist."
„Auf eine gute oder eine schlechte Art?", hakt sie nach.
„Weder noch", gebe ich zurück. „Ich bin einfach so durcheinander." Pari nickt nachdenklich und streicht mit dem Daumen, über meine Unterlippe. „Ich weiß nicht, was ich fühle in Bezug auf dich ...", gestehe ich. „Ich war so wütend und jetzt liegen wir hier und ich fange an, infrage zu stellen, was eigentlich mein Anteil an dieser Sache damals war."
„Ich verstehe das", versichert sie mir. „Durch diesen Prozess bin ich im Iran auch gegangen." Sanft schiebe ich sie von mir runter. Als wir nebeneinander auf dem Rücken liegen, greife ich nach ihrer Hand. Ihre Finger verschränken sich mit meinen. All meine Gedanken fließen ineinander, ich kriege kein einziges Wort zu fassen. Darum bin ich dankbar, dass sie das Gespräch anregt. „Während ich bei meiner Familie war, musste ich dauernd über Narrative nachdenken. Ich habe mich deinetwegen einem Haufen Menschen anvertraut. Am schlimmsten war es vor Oma Dunja, mit der ich ursprünglich gar nicht über dich sprechen wollte. Sie hat mich erst unter Druck gesetzt und manipuliert, damit ich rede. Dann habe ich ihr von unserer Affäre erzählt und schneller als ich gucken konnte, war ich in ihrer Version der Geschichte die dumme Hure und du hast mich nach Strich und Faden ausgenutzt." Sie seufzt. „Erklär mal einer strenggläubigen Frau Mitte siebzig, dass es ursprünglich umgekehrt war."
Natürlich weiß ich, was sie meint, aber ich muss trotzdem schmunzeln.
„Ich soll also die dumme Hure gewesen sein, aha", locke ich sie aus der Reserve. Pari lacht.
„Wir hatten unverbindlichen Sex, in ihrer Weltanschauung ist das Sünde. Aber über dich hat sie sich weniger aufgeregt, sie hat all ihre Geschütze auf mich abgefeuert."
Sie dreht mir ihren Kopf zu, küsst mich auf die Wange. Ihre Lippen kitzeln an meinem Ohr, als sie leise weiterspricht. „Du hast mir leider den Männerbonus voraus, das ist im Iran ganz praktisch. In den Augen meiner Oma kannst du machen, was du willst; du solltest vielleicht nicht, aber immerhin darfst du. Ich hingegen –" Ihre manikürten Finger kämmen durch meine Locken. „Ich zitiere direkt – habe mich wie eine Hure benommen und damit die Ehre unserer Familie aufs Spiel gesetzt."
Ich fasse unter ihre Hüfte, hebe sie hoch und lege sie auf mir ab. Dabei lache ich, als hätte sie mir einen Witz erzählt. Doch es ist bitterer Ernst. Pari atmet tief durch, anscheinend spielt sie den Streit mit ihrer Großmutter in Gedanken ein zweites Mal durch. Diese Geschichte fügt sich passgenau in das ambivalente Bild, das ich von ihrer Familie ohnehin schon habe.
„Ich glaube", räuspere ich mich und streiche mit dem Daumen vorsichtig über ihre Wange. Als sie mich ansieht, kribbelt es warm in meiner Magengegend. „Mit einer Sache hat sie trotzdem recht", sage ich. Pari wirkt völlig irritiert. Schnell fische ich nach einer Erklärung, doch die Worte, die ich finde, sind eindeutig die falschen. „Diese Affäre ist aus einer Dummheit heraus entstanden." Tränen sammeln sich in ihren Augen, und ich bin überrascht, wie schnell. Bisher hat Pari sich fast ausschließlich ruhig und rational zu dem, was zwischen uns vorgefallen ist, geäußert.
„Was soll das denn bitte bedeuten?", fragt sie mich mit erstickter Stimme.
„Äh, was ...?" Pari reibt über ihren linken Unterarm. „Hey." Ich stoppe sie, indem ich ihr Handgelenk umfasse, drücke mich ein Stück mit dem Oberkörper hoch und küsse sie auf den Haaransatz. „Kein Grund zu weinen. Ich meine damit nur, dass wir beide was daraus gelernt haben." Pari schaut mich an, ihre Unterlippe zittert nach wie vor.
„Was hast du für dich aus all dem gezogen?", fragt sie mich und ich verliere mich in einem reißenden Strom aus tausenden von Antwortmöglichkeiten. Im Nachhinein weiß ich, dass ich Dinge in dieser Affäre gefühlt habe, die ich nie an Pari herangetragen habe, obwohl ich eben das hätte tun sollen. Ich weiß, dass ich sie verloren hätte, wenn ich ihr früher als in Paris gesagt hätte, dass ich sie liebe. Ich weiß, dass ich zu feige war, mir selbst einzugestehen, wie wenig ich das wollte, was wir tatsächlich hatten und mich stattdessen dafür entschieden habe, in meinen Vorstellungen davon zu leben, wie es sein könnte ... Und ich weiß jetzt im Nachhinein, dass ich sie noch immer liebe – die echte Pari, nicht die Illusion. Die, die mich aus großen, traurigen Augen mustert und auf eine Antwort wartet.
„Meine Ängste haben die Kontrolle übernommen, weil ich sie lieber ignoriert habe, statt mich gebührend mit ihnen zu befassen. Letztendlich habe ich an den falschen Dingen festgehalten. Nur weil oberflächlich alles okay ist, weil du mich zum Lachen bringst, oder der Sex mit dir fantastisch ist, heißt das nicht gleich, dass es mir insgesamt gut geht. Ich hab mich selbst belogen in der Affäre, immer und immer wieder."

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