12. Kapitel: "Alles dreht sich immer nur um dich."

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Vincent schüttelt den Kopf und ich stöhne.
„Dicka, dein Ernst?", frage ich ihn.
„Was kann ich denn dafür, wenn du zu laut bist, Alter?"
„Du kennst das doch nicht anders von mir", gebe ich bockig zurück.
„Mann, Dag. Muss ich jetzt echt für jeden deiner Versuche an deinen Grundeinstellungen rumschrauben?", übernimmt er meine Gereiztheit. Ich fahre mir durchs Haar, betrachte meine Spiegelung in der Scheibe, dann wieder meinen besten Freund und Bandkollegen, der die Geste unbewusst nachahmt, während er auf seinen Computerbildschirm starrt. „Ey, das funktioniert doch sonst auch immer alles, kannst du nicht mal so singen wie an den andern Tagen?", murrt er.

Ich lege den Kopf in den Nacken und atme tief durch, aber dieses ständige Geklicke von Vincents Maus macht mich noch wahnsinnig. Also brumme ich ins Mikro, dass ich eine Pause brauche. „Von unserer Aufnahmesession oder von deinem Leben?", fragt Vincent in ernstem Tonfall, obwohl es als Scherz gemeint ist. Aber mir fehlt die Kraft auf seine Späßchen einzugehen.

Ich stoße die Tür der Booth auf und schnappe mir die Wasserflasche, die Vincent auf den Boden unter seinem Schreibtisch deponiert hat. Leider spült das meine Kopfschmerzen auch nicht weg. Unsere tägliche Arbeit im Studio war mir noch nie so unliebsam. Früher war das hier mein Rückzugsort, ich war immer locker und frei, habe mich wohlgefühlt wie in einem zweiten Zuhause. Ähnlich wie in Paris, aber doch anders. Die Räume sind sowas wie meine WG mit meinem besten Kumpel, in die wir manchmal unsere Freunde einladen, wo wir kreativ und dabei gleichzeitig gechillt sein können. Meistens bin ich gechillt, Vincent ist gestresst. Das hat er sich allerdings selbst zuzuschreiben.

Nachdem er einen flüchtigen Blick auf sein Handy geworfen hat, sieht mein bester Freund zu mir auf, lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkt die Arme hinterm Kopf. Aus seinen braunen Augen mustert er mich. „Lass ma' für heute schlussmachen, Diggi", schlägt er mir vor und ich stocke in der Bewegung. Eigentlich wollte ich den Deckel zurück auf die Flasche schrauben, stattdessen fällt er mir aus der Hand.
„Was 'n mit dir los?", frage ich ihn perplex und hebe den Plastikdeckel vom Boden auf. Irgendwer sollte hier drin mal wieder staubsaugen.
„Komm, hat doch keinen Sinn gerade. Du bist mega unkonzentriert, ich bin mega angenervt von dir –"
„Ach, du bist genervt von mir?", pflaume ich ihn sauer an.

Vincent reibt sich mit dem Arm über die Augen und als er ihn wieder runternimmt, wirkt er traurig und müde.
„Du bist echt schlechte Gesellschaft momentan, weißt du das?" Er steht auf und schüttelt seine Beine aus. „Ich fahr zu Charlotte", informiert er mich schließlich. Seine Hand landet im Vorbeigehen kurz auf meiner Schulter, gleitet daran herab und ich stehe noch wie festgewachsen am selben Fleck, als er „Bis morgen!" ruft, sich seine Jacke überstreift und verschwindet.
„Bis dann", sage ich. Vielleicht hört er es nicht mal mehr, wahrscheinlich interessiert ihn aber auch nicht, ob ich mich von ihm verabschiede oder nicht. Er läuft gerade ganz eindeutig vor mir weg.

Das Altenheim, in dem meine Oma untergebracht ist, protzt mit einer Fassade aus rotem Backstein und gotischen Fensterbögen, durch die viel Licht in die langen Flure fällt, die ich just auf der Suche nach ihrem Apartment durchquere. 314, 315 ... 319.

„Herein." Es ist meine Mutter, die mich ins Zimmer bittet, nicht Oma. Oma sitzt einfach nur auf dem Sofa und lächelt, als ich den Raum betrete. Dabei fixiert sie einen Punkt über meinem Kopf, vermutlich die große Uhr, die über der Tür hängt, mit dieser abscheulichen Zeichnung zweier überzüchteter Möpse, umrankt von Rosen. Die Kinder der Vormieterin haben kein einziges Möbelstück und keinen einzigen Deko-Gegenstand aus der Wohnung entfernt, die so klein ist wie ein Schuhkarton. Kleiner als meine eigenen vier Wände sogar und das ist ein wahres Kunststück.

„Hallo Oma", begrüße ich die gestandene Dame mit der silbergrauen Dauerwelle und den eingefallenen Wangen. Ihre Lippen haben seit meinem letzten Besuch an Farbe verloren, es kann aber auch sein, dass mir das nur so vorkommt. Als ich noch jünger war, hat meine Oma sich jeden Tag geschminkt. Nie ausgefallen, nur Wimperntusche und ein Hauch roter Lippenstift. Rot ist heutzutage nur noch die Couch, auf der Mama und sie Platz genommen haben.
Ich setze mich auf den giftgrünen Sessel gegenüber und zwinge mich, das freundliche Lächeln meiner Mutter wenigstens für einen Sekundenbruchteil zu erwidern.
„Mama, schau mal", wendet meine Mutter sich an ihre Mutter, „Dag ist hergekommen, dein Enkel. Du hast vor ein paar Tagen von ihm gesprochen und mir davon erzählt, wie ihr italienisches Eis in der Einkaufshalle essen wart, erinnerst du dich?"
Oma blinzelt stumm, sie lächelt nach wie vor und mein Herz sinkt mir bis in die Kniekehlen als ich realisiere, dass da nichts mehr kommt. Es hat sich nichts geändert, seit ich sie das letzte Mal hier besucht habe. Ihr Zustand ist immer noch schlecht.

Escape the FriendzoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt