11. Kapitel: "Zwischenzeitlich weiß man nicht was falsch und richtig ist."

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Erinnerungen an meine Jugend steigen in mir auf, als ich vor dem großen Mietshaus zum Stehen komme, in dem ich aufgewachsen bin. Der Strauß aus weißen Lilien Mamas Lieblingsblumenden ich in den Händen halte, duftet angenehm. Meine arme Mutter ... Sie hat so viel mit mir durchgestanden, weshalb ich heute versuche, sie zu unterstützen, wo es geht. Nachdem mein Vater sich von ihr getrennt hat, sind wir hierhergezogen, näher in Richtung meiner alten Schule. Mama wollte einen Neuanfang für uns beide. Es hat aber nichts genützt, mich dahin zu schleifen, wo ich am liebsten keine einzige kostbare Sekunde vergeudet hätte. Ich bin nicht öfter in der Penne gewesen, so wie Mama sich das aufgrund des überstürzten Umzugs erhofft hatte. Die Lehrer damals haben mich teilweise verachtet und von oben herab behandelt, was ich mir nicht habe gefallen lassen; und so schlug mein schlechter Ruf sich letztlich auch in meinen Noten nieder. Es hatte sich rumgesprochen, dass ich aufmüpfig und frech war, sodass mir der Wechsel an eine andere Schule versagt blieb. Dort wollten sie einen wie mich genauso wenig haben.

„Dag, bist du das?" Die Stimme meiner Mutter ertönt sofort aus dem Wohnzimmer, kaum dass ich den Schlüssel im Schloss herumgedreht und die Tür aufgestoßen habe. Ich kümmere mich, wie Vincent das bei seinen Eltern auch macht, um die Blumen und die Post, wenn Mama mal im Urlaub ist. Außerdem ist die Klingel ohnehin kaputt.
„Ja, ich bin's", bestätige ich und schon taucht sie vor mir auf. Ihre bordeauxrote Brille schiebt sie sich zurück auf den Nasenrücken und ihre braunen Augen funkeln, als sie mich in ihre Arme schließt. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich.
„Du hast Blumen mitgebracht?", fragt sie mich überrascht und drückt mich fest. Ich erwidere die Umarmung lächelnd.
„Klar, ich weiß doch, wie sehr du frische Blumen magst und ich war lange nicht mehr hier, um dich zu besuchen, deswegen habe ich extra ein paar mehr gekauft. Ich hoffe, die passen alle in die Vase."
„Das ist sehr aufmerksam von dir, mein Schatz." Sie haucht mir einen liebevollen Kuss auf die Wange, dann lösen wir uns voneinander. „Jetzt fühle ich mich schlecht, ich wollte doch für dich kochen. Tut mir leid, die Kinder haben gerade eine Klassenarbeit geschrieben und ich bin mit den Korrekturen im Rückstand, da habe ich völlig vergessen, dass du heute vorbeikommst."
„Das macht doch nix", winke ich ab. Mamas Nasenflügel zucken, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich Vorwürfe macht.
„Sicher?", hakt sie nach.
„Ich bin groß und stark, ich verhungere bestimmt nicht gleich", scherze ich, ziehe dabei meine Jacke aus und hänge sie über den Garderobenständer.
„Das bist du", nickt meine Mutter zufrieden, runzelt aber dennoch die Stirn. „Aber müde siehst du aus. Ist alles in Ordnung?" Tja, mütterlicher Instinkt ...

„Es war viel los die letzten Tage", erkläre ich vage. „Das erzähle ich dir am besten in Ruhe bei einer Tasse Kaffee."
„Wunderbar, folgst du mir in die Küche?" Wunderbar ist das, was ich ihr sagen möchte nicht, trotzdem folge ich ihrer Aufforderung. Ich setze mich an den gläsernen Esstisch und lege die Blumen darauf ab. Meine Mutter wirbelt zu mir herum, und stellt eine große Vase vor mich hin. „Schneidest du sie vorher noch an?", bittet sie mich und ich nehme ihr das Messer und das Brettchen aus der Hand, das sie mir zum Trimmen der Lilienstängel reicht. „Dann erzähl mal, wie geht's Vincent?"
„Gut, bestens. Er hat sich mit Charlotte vertragen."
Mama atmet erleichtert auf.
„Puh, das sind gute Nachrichten. Er war ja wirklich nur ein Schatten seiner selbst, als ich ihn das letzte Mal getroffen habe." Ich nicke.
„Ja, ich freu mich auch für die beiden, aber in letzter Zeit streiten Vincent und ich uns häufiger."
„Wieso das denn?", fragt sie erstaunt.

Seufzend berichte ich ihr von Pari und als ich meine Ausführungen beende und die Blumen in die Vase stelle, hat meine Mutter sich von der Kaffeemaschine abgewandt. Sie mustert mich besorgt.
„Oh, Dag. Das tut mir so leid."
„Muss es nicht. Seit ich diesen Brief von ihr bekommen habe, stehe ich wieder exakt da, wo ich vor ein paar Wochen schon mal war."

Escape the FriendzoneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt