4. Wahrsagen

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Harry hatte sich nach der Unterrichtsstunde mit der aufgezwungenen Projektarbeit ein wenig zurückgezogen, nachdem sie Ron in Hermines Hände gegeben hatten. Laut Snape hielt der Trank nur wenige Stunden an. Nun saß er alleine am See. An dem See, an dem er Draco vor einiger Zeit beobachtet hatte. Harrys Kopf war voll. Voll von Draco Malfoy. Er musste sich eingestehen, dass diese starke Abneigung, die er noch vor nicht allzu langer Zeit Draco gegenüber verspürt hatte, fast komplett verschwunden war - und das völlig ohne ersichtlichen Grund. Vielleicht lag es daran, dass sie mittlerweile alle erwachsen waren und sich, gerade durch den Krieg, sehr verändert hatten. Harry war nicht entgangen, wie sehr Draco sich schon allein äußerlich verändert hatte. Als er an sein Handgelenk gefasst hatte, um zu verhindern, dass Harry das komplette Löffelkraut in den Kessel schmiss, war sein Griff so stark gewesen und seine Hand so ungewohnt groß. Wenn jemand praktisch mit einem gemeinsam aufwuchs, schienen einem solche Veränderungen irgendwie nicht so sehr aufzufallen, als wenn man jemanden beispielsweise nach sehr langer Zeit wiedersah. Doch Harry hatte zum ersten Mal seit langer Zeit mal wieder seinen Fokus auf Draco gelegt, war ihm zum ersten Mal wieder etwas näher gewesen und die Veränderungen waren ihm im Nachhinein überdeutlich vorgekommen. Er war sicher gute zehn Zentimeter größer als Harry, war allgemein etwas muskulöser gebaut und hatte viel markantere Gesichtszüge, als der Gryffindor. Er war erwachsen geworden, ganz einfach. Harry fühlte sich selbst noch immer wie ein Teenager; er kam sich selbst so weich und unerfahren vor - uns das obwohl er Voldemort hatte besiegen können und somit etwas beinahe Unmögliches geschafft hatte. Das alles half ihm letztendlich nicht wirklich dabei, sich reifer zu fühlen - eher im Gegenteil. Nicht nur, dass er nie eine richtige Kindheit hatte, nun war er auch noch seiner Jugend beraubt worden. Warum kam es ihm so vor, als würde er immer hinterherhinken, egal worum es ging? Warum war er nach all den Jahren noch immer nicht stolz darauf, Harry Potter zu sein? Warum kam es ihm so vor, als würden ihn die Leute nur wegen seines Namens mögen, und nicht wegen dem, was er war - wie er war?

Der Schwarzhaarige war auf dem besten Wege in eine viel zu verfrühte Midlife-Crisis, als sich jemand hinter ihm leise räusperte. Er sah sich um und erblickte Ginny.

„Hallo Harry. Störe ich?"

„Ginny", sagte Harry überrascht. „Nein, gar nicht. Setz dich doch." Er klopfte auf die Wiese neben sich und Ginny ließ sich dort nieder. Die Sonne würde bald untergehen, aber es war noch warm genug, um im T-Shirt draußen zu sitzen.

„Ist alles in Ordnung bei dir?"

„Ja, schon." Er lächelte. „Der Unterricht war nur etwas anstrengend heute." Ginny fragte genauer nach, also erzählte Harry ihr alles. Dabei fiel ihm nicht auf, dass er Draco vielleicht ein bisschen zu oft erwähnte, doch glücklicherweise hinterfragte die Rothaarige das nicht weiter. Auch Harry wollte wissen, wie es bei Ginny lief, also saßen sie noch eine ganze Weile lang am See und plauderten, bis die Sonne langsam unterging. Dann schwiegen sie und betrachteten den Sonnenuntergang, der zugegebenermaßen wirklich wunderschön aussah, dort unten am See. Es war, als würde das Wasser durch die Reflexion des Himmels komplett rot eingefärbt werden. Harry und Ginny lehnten beide mit dem Rücken an einem der großen Bäume. Gerade, als Harry kommentieren wollte, wie lange es draußen nun wieder hell blieb und dass sich wohl der Sommer endlich ankündigte, spürte er Ginnys warme Hand an seiner eigenen. Er sah zu ihr, blickte in ihr hübsches, lächelndes Gesicht und konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. Sie sagte nichts, sie sah ihn einfach bloß an und streichelte seine Hand. Ganz automatisch umfasste er ihre Hand und umfuhr die zierlichen Finger sanft, während sie noch immer Blickkontakt hielten. Es dauerte nicht lange, bis sich Ginny ganz langsam zu ihm beugte. Obwohl Harry wusste, dass sie sich küssen würden und obwohl er ihr keine falschen Hoffnungen machen wollte, kam er nicht umhin, ihr ebenfalls langsam entgegenzukommen. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, fielen ihm die Augen zu. Sein letzter Kuss war lange her. Noch vor dem Krieg hatten Ginny und er sich getrennt. Harry hatte seinen Kampf gegen Voldemort damals als Ausrede benutzt, um mit ihr Schluss zu machen. Er hatte sich selbst lange Zeit vorgegaukelt, dass er wirklich nicht wollte, dass sie in diese Sache mit reingezogen wurde - und das hätte er sich tatsächlich auch niemals verzeihen können - aber in Wahrheit war ihm diese Gelegenheit ganz recht gekommen, denn er liebte Ginny einfach nicht. Er hatte es versucht und es war eine furchtbar verzwickte Situation, weil er sie unfassbar gerne mochte, aber lieben tat er sie nicht. Es war schwer gewesen, sich das einzugestehen.

Der EisprinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt